Meinen Sohn bekommt ihr nie
aushändigen.»
Mein Magen krampft sich zusammen. «Was heiÃt das, â¹auf Anweisung aus Bernâº? Warum denn das?»
«Ich weià es nicht. So lauten eben die Vorschriften», antwortet er und schlieÃt den Schalter.
Wenn die Anordnung aus der Hauptstadt kommt, muss es ein Problem geben, das alles andere als harmlos ist. Mit einer unguten Vorahnung rufe ich meinen Anwalt an.
Tatsächlich finde ich am nächsten Morgen einen Zettel in meinem Briefkasten, ein Einschreiben liege zum Abholen bereit.
Der Umschlag trägt den bedrohlichen Titel «Vollstreckungsantrag». Schlagartig werde ich mir des Ernsts der Lage bewusst. Mir ist übel, als ich den Umschlag öffne. Was ich lese, übersteigt meine finstersten Befürchtungen: Auf Anordnung des Friedensgerichts des Bezirks Lausanne werden uns die neuen Pässe nicht ausgestellt. Stattdessen fordert man mich auf, die alten Pässe sowie meinen Schweizer und den belgischen Personalausweis bei den Behörden abzugeben. Zudem wird mir unter Androhung von Sanktionen untersagt, das Schweizer Staatsgebiet zu verlassen.
Das Schlimmste aber ist, dass Shai die sofortige Rückkehr von Noam nach Israel verlangt und dafür eine Lausanner Anwältin eingeschaltet hat.
Verwirrt eile ich zu meinem Anwalt. Was geht hier vor? Wie hat uns Shai bloà finden können? Das war, wie mir Monsieur Favre erklärt, nicht allzu schwer: Seit meiner Abreise aus Israel wurde ich von Interpol gesucht. Als ich unsere Pässe verlängern lassen wollte, haben die Schweizer Behörden Interpol davon in Kenntnis gesetzt, die wiederum die israelischen Behörden informierte. Diese reagierten prompt und fuhren schweres Geschütz auf: Sie beschuldigen mich, Shais Rechte verletzt und das israelische Gesetz missachtet zu haben, indem ich mich über das Ausreiseverbot für Noam hinweggesetzt habe; und schlieÃlich hätte ich gegen das Haager Ãbereinkommen verstoÃen, das bei Kindern, die von einem Elternteil widerrechtlich ins Ausland gebracht wurden, die sofortige Rückführung vorsieht.
Die israelische Zentralbehörde, die bei Kindesentführung einschreitet, hat sich daraufhin an die Schweizer Zentralbehörde gewendet, die als MaÃnahme höchster Dringlichkeit das Friedensgericht in Lausanne angerufen hat. Im Klartext heiÃt das, dass das israelische Justizministerium das Eidgenössische Justizdepartement aufgefordert hat, Noams Rückkehr nach Israel unverzüglich in die Wege zu leiten.
Und dann der TodesstoÃ: Nach israelischem Recht liegt die elterliche Erziehungsgewalt automatisch bei beiden Elternteilen. Sie umfasst auch das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. Folglich habe ich, obwohl ich für Noam das Sorgerecht besitze, hinsichtlich der elterlichen Gewalt Shais Rechte und damit das israelische Gesetz verletzt.
Alles dreht sich in meinem Kopf. Fragend schaue ich meinen Anwalt an. «Und jetzt?»
«Jetzt bereiten wir uns auf die Gerichtsverhandlung vor. Sie ist für Ende August angesetzt. Uns bleibt gerade noch die nötige Zeit. Ihr Exmann ist auch geladen.»
Wie ein dunkles Gespenst taucht Shai vor meinem inneren Auge auf. «Das ist nicht wahr!»
«Leider doch», entgegnet Monsieur Favre. «Zusammen mit seiner Anwältin. Ich kenne sie, sie ist auf internationales Privatrecht spezialisiert. Da haben wir eine harte Nuss zu knacken.»
Und dabei war ich gerade dabei, wieder zur Ruhe zu kommen, ein normales Leben zu führen und vor allen Dingen Shai aus meinem Gedächtnis zu tilgen. Es war alles zu schön, um wahr zu sein. Ich hätte wissen müssen, dass er es nicht dabei bewenden lässt. Was geschehen würde, wenn wir nach Israel zurückkehrten, wage ich mir nicht auszumalen. Noch immer klingen mir Shais Worte in den Ohren: «Das wird dich teuer zu stehen kommen. Ich werde dir alles nehmen, einschlieÃlich Noam, und danach wird dir nur noch zum Heulen sein.»
Ich weiÃ, dass er eine neue Frau hat und wieder Vater geworden ist. Soll er uns doch gefälligst in Frieden lassen!
Mein Anwalt reiÃt mich aus meinen Gedanken. Zunächst müssen sämtliche in Hebräisch abgefassten gerichtlichen Dokumente übersetzt werden. Danach legen wir uns eine Strategie zurecht. Zum Glück habe ich alle erforderlichen Unterlagen auf meine Flucht mitgenommen. Ich lasse sie von einer Fachagentur ins Französische übersetzen. Es sind Dutzende
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