Meinen Sohn bekommt ihr nie
eröffnet. Die Präsidentin stellt mir Fragen zu meiner damaligen Situation in Israel. Zum ersten Mal lege ich öffentlich die Umstände meiner Flucht dar. Gefasst erkläre ich, dass ich Israel verlassen habe, um mein Kind einem fanatischen Umfeld zu entziehen und auch um mich selbst zu schützen. Ich erzähle ihnen, wie Shai immer mehr vom rechten Weg abkam und wie sich sein Verhalten veränderte, zum Beispiel als er sich weigerte, unseren kranken Sohn am Sabbat ins Krankenhaus zu fahren. Ich berichte von den Drohungen, den Erniedrigungen, ich lege alles offen. Die Richter hören mir aufmerksam zu. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Dann fragt mich die Gerichtspräsidentin, ob ich mir der Risiken bewusst sei und wüsste, was mich bei meiner Rückkehr in Israel erwarte. Offen gestanden, ist mir das genaue Strafmaà nicht bekannt, doch mit Sicherheit würde man mir dort nicht den roten Teppich ausrollen.
Es folgt die Befragung der Zeugen.
Mein Vater ist der erste. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und berichtet, wie sehr sein Schwiegersohn versucht habe, seinem ganzen Umfeld seine Sichtweisen aufzudrängen, und dass er sich dabei nicht um unsere persönlichen Freiheiten geschert habe. Er kommt auf die Geschichte mit dem Glühbirnchen zu sprechen und erwähnt auch, wie Shai mir mit erhobener Hand drohte, weil ich am Sabbat die Jalousie hochgefahren hatte. Mit gröÃter Selbstverständlichkeit verkündet er: «Wäre ich mit ihm alleine gewesen, hätte ich ihm einen Tritt in den Hintern verpasst. Doch meine Tochter wollte nicht, dass es zum Eklat kommt, und hinderte mich daran. Er verhielt sich wie im Wahn, sprach nur noch von Gott und der Thora.»
Er sagt auch, dass er Noam für einen heiteren, kontaktfreudigen und klugen Jungen halte, der schon bemerkenswert gut Französisch spreche.
Octavio schlägt ähnliche Töne an. Da er sich den ganzen Tag um Noam kümmert, weià er am besten, wie glücklich der Kleine ist und dass er sich normal entwickelt. Von mir sagt er, dass ich eine gute Mutter sei.
Ein Freund, der Shai vor der Hochzeit kennenlernte und ihn nach Noams Geburt wiedersah, erzählt den Richtern schlieÃlich noch, wie sich mein Ehemann in kürzester Zeit verändert habe, dass er sich bei seinem zweiten Besuch in der Schweiz weigerte, über etwas anderes als Religion zu reden, und unsere Ferien damit zu einem einzigen Albtraum machte.
Nun haben die Anwälte das Wort.
Monsieur Favre bestätigt, dass mir bei einer Rückkehr nach Israel eine schwere Strafe drohen würde. Auch legt er den Richtern das bekannte Foto vor, das Shai im typischen Aufzug und auf Inlineskates zeigt. Das Foto wird herumgereicht. Die Gerichtspräsidentin fragt mich, ob es sich dabei nachweislich um Shai handle, woran man seine Identität festmachen könne.
Ich zögere keinen Augenblick: «Die Inliner!» Auf einer vergröÃerten Aufnahme würde man erkennen, dass die Schuhe von einer bestimmten Marke seien. Ich hätte sie ihm auf unserer ersten Schweizreise geschenkt, ein Detail, das bisher niemand kannte. Die Gerichtspräsidentin nickt.
Shais Schweizer Anwältin pocht auf die Verbindlichkeit des Haager Ãbereinkommens. Wie ich unlängst zu meiner Bestürzung erfahren musste, sieht dieses Abkommen, das bei internationalen Kindesentführungen greift, vor, dass die Rückführung immer dann angeordnet wird, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Verbringen des Kindes gestellt wird.
Als ich von diesem Artikel des Ãbereinkommens erfuhr, hätte ich mir die Haare raufen können dafür, dass ich beim Verlängern von Noams Pass so gewissenhaft war. Ist die Jahresfrist erst einmal verstrichen, geht das Gericht davon aus, dass sich das Kind in der neuen Umgebung eingelebt hat und eine Rückkehr ins Heimatland nicht mehr zwingend ist. Einen knappen Monat später, und ich wäre aus dem Schneider gewesen. Doch leider habe ich nichts davon gewusst.
Verflixter Passâ¦
Erste Siege
Laut der Gerichtspräsidentin wird das Friedensgericht sein Urteil «binnen angemessener Frist» fällen. Also warten wir. Ich möchte daran glauben, dass Monsieur Favres Verteidigungsschrift sowie meine Aussage vor Gericht unmöglich ihre Wirkung verfehlen konnten. Während der Anhörung blieb ich ganz ruhig und lieà mein Herz sprechen, als ich mein Leid und die Gründe meiner Flucht
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