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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabelle Neulinger
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eine Freundin der Familie. Es sind bewegende Momente, als ich Igal nach fünf Jahren wiedersehe.
    Schon seit dem Morgen ist das Schweizer Fernsehen mit dabei, doch im Gerichtssaal sind Kameras nicht erlaubt. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, weil ich weiß, dass wir vor diesem Gericht, dem höchsten, das man sich vorstellen kann, unsere letzte Karte ausspielen. Als der Gerichtsdiener die siebzehn Richter ankündigt und diese feierlich den großen Gerichtssaal betreten und sich im Halbkreis aufstellen, bin ich aufgeregt wie selten zuvor. Das sind sie also, die Menschen, die über unser Schicksal entscheiden werden. Die Gerichtskameras zeichnen die Verhandlung auf, die später, in mehrere Sprachen übersetzt, auf die Website des Gerichtshofes gestellt wird.
    Auch für meine Anwälte ist es ein beinahe historischer Moment, denn eine Anrufung der Großen Kammer kommt nicht alle Tage vor. Der Gerichtssaal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Im Publikum sind zahlreiche Staatsanwälte, die interessiert verfolgen, ob ein neuer Präzedenzfall geschaffen wird.
    Neben uns sitzen die Vertreter der Schweizer Regierung, die sich über die ganzen Jahre hinweg eisern auf die Seite Israels gestellt und daran festgehalten hat, dass Noam in meiner Begleitung nach Israel zurückkehren müsse. Nun wird sie ihren Standpunkt vor den Richtern zu verteidigen haben. Dass die Regierungsvertreter in ihrem Plädoyer keinen Millimeter davon abrücken, verwundert mich nicht.
    Die Schlussplädoyers sind gehalten. Meine vier Anwälte haben dabei die Glanzleistung vollbracht, alle wesentlichen Punkte des Falls aufzugreifen und sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.
    Der Präsident der Großen Kammer fragt die Richter, ob sie noch Fragen hätten.
    Im Vorfeld rechnete Monsieur Lestourneaud mit ein, zwei Gegenfragen. Am Ende werden daraus ganze zwölf Fragen, die an uns gerichtet sind, stichhaltig und sehr präzis. Die Liste ist so lang, dass uns der Gerichtspräsident eine zwanzigminütige Pause zugesteht, um unsere Antworten vorzubereiten.
    Ich nutze sie, um kurz nach draußen zu gehen. Mir unbekannte Menschen kommen auf mich zu, schütteln mir die Hand und drücken mir spontan ihr Mitgefühl aus. Ihre Anteilnahme berührt mich. Schon seit einiger Zeit, seit öffentlich über meine Geschichte berichtet wird, erkenne ich, was für ein Potenzial in ihr stecken muss, dass sie sogar in ganz Europa, in Israel, ja selbst in den USA Wellen schlägt.
    Der Reihe nach beantworten meine Anwälte die Fragen der Richter und sind dabei wieder einmal klar und prägnant.
    Die Anhörung ist beendet, die Richter ziehen sich zur Beratung zurück. Das Urteil soll zu einem späteren Zeitpunkt verkündet werden, doch der genaue Termin wird nicht bekannt gegeben.
    Nach der Verhandlung ist Monsieur Lestourneaud sehr schweigsam, Monsieur Favre freut sich über den Verlauf. Doch die Ungewissheit bleibt: Was die Richter tatsächlich denken, ist schwer zu erraten. Wird das Gericht den Mut haben, sein Urteil zu revidieren?

    Erneut warten. Schon zum fünften Mal steht unsere Zukunft in den Sternen. Seit fünf Jahren sind unsere Reisetaschen gepackt, fünf Jahre, in denen ich Noams zu klein gewordene Kleidungsstücke aussortiere und durch immer größere Pullover und Jeans ersetze. Fünf Jahre, in denen ich von einem Tag zum nächsten lebe, von Gerichtsurteil zu Gerichtsurteil, ohne je langfristig planen zu können.
    Täglich rufe ich die Website des Gerichtshofs auf. Anhand anderer Fälle versuche ich zu erahnen, welche Richtung das Gericht in meinem Fall einschlagen wird. Doch das ist vergeudete Zeit, nichts dringt zu uns durch. Mein Herz fängt an zu rasen, sobald die Nummer eines meiner Anwälte auf dem Telefondisplay erscheint.
    Für den Sommer 2010 habe ich Noam in einem Ferienlager in der Schweiz angemeldet. Ende Juni erreicht mich die Nachricht, dass die Große Kammer ihren Beschluss in zehn Tagen bekannt geben wird. Also informiere ich den Leiter des Ferienlagers, dass Noam einige Tage später nachkommen werde, und bringe meinen Sohn Anfang Juli zu meinem Vater nach Frankreich. Es geht um alles oder nichts: Entweder wir gewinnen, und ich kann Noam wieder abholen und ihn ins Ferienlager fahren, oder wir verlieren, und Noam bleibt in Frankreich, bis das weitere Vorgehen feststeht. Als ich zu meinem Vater aufbreche, habe ich an alles

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