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Meines Bruders Moerderin

Meines Bruders Moerderin

Titel: Meines Bruders Moerderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Rodrian
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wieder, Schüsse, die keiner hörte. Barbara warf sich über ihn, rammte ihm das Knie zwischen die Beine und rollte sich über ihn hinweg und unter dem Tor durch hinaus. Fünfundvierzig Zentimeter.
    Sie hörte seine Schreie, sie sah seine Hand, die noch unter dem Tor hervorkam. Fünfzehn Zentimeter.
    Sie merkte erst viel später, dass sie verletzt war. Als die Schmerzen kamen. Als sie weglaufen wollte und nur noch kriechen konnte. Als sie die ersten Feuerwehrsirenen hörte.
    Das Dach der Garage krachte ein, die ersten Flammen erreichten das Haupthaus. Taghell. Sie kroch an den Büschen vorbei zu dem Tor in der Mauer. Sie musste sich an die Klinke hängen, fiel draußen wieder zu Boden. Robbte zu dem Porsche.
    Der Türgriff schien unerreichbar hoch. Ihr linker Arm gab unter ihr nach wie Gummi, der Schmerz kam mit Zeitverzögerung und so heftig, dass er wie ein Schock alle anderen Empfindungen ausblendete. Der rechte Arm trug sie, sie wuchtete sich über den Ellbogen ins Auto und zog die Beine mit Hilfe der rechten Hand nach. Sie musste ein paar Mal blinzeln, um den Blutschleier von den Augen zu bekommen. Der Zündschlüssel steckte noch, als sie zu drehen versuchte, sah sie ihre eigenen Finger. Dick und rot wie gekochte gambas . Sie zitterte. Sie hörte das erste Polizeiauto. Die Stimmen der Nachbarn. Rufe, Schreie.
    Der Motor sprang an.

5
    Janet schob sich durch die Menge vor dem üppigen Tapabuffet an die Bar, füllte ihr Bierglas mit Weißwein auf und kramte einen Eiswürfel aus einem der Plastiksäcke, mit denen die Bier- und Champagnerflaschen in der alten Badewanne gekühlt wurden. Es erwies sich als schwierig, nicht gleichzeitig den Wein wieder zu verschütten.
    »Moment, ich helf dir«, ein junger Mann mit Haaren so kurz, dass man die Kopfhaut darunter blinken sah, bückte sich dicht neben ihr über die Wanne und riss an der Plastikverpackung der schon halb geschmolzenen Eiswürfel.
    Sie trug ein leichtes Seidenkleid mit Spaghettiträgern und keinen BH. Sie trug seit ihrem ersten mörderischen Push-up vor vierzig Jahren keinen BH mehr. Ihr linker Busen wollte sich in dieser Position nicht halten lassen, und sie hatte die Wahl, ihm oder ihrem Wein seine Freiheit zu lassen. Sie entschied sich für den Busen.
    Die sonnengebräunte Haut unter dem Stoppelhaar färbte sich dunkel. Langsam richtete Janet sich auf und fluppte den Busen an seinen Platz zurück. Der junge Mann kippte ihr eine ganze Hand voll Eiswürfel ins Glas. Ein Jungengesicht. Dunkelrot unter den blondierten Borsten. Noch viel jünger als sie vermutet hatte. Aber verdammt schöne Augen. Er holte tief Luft. »Ich bin Nicolau.« Er grinste verlegen, sie lächelte zurück. Seine Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder zu einem hellen Sonnenbraun, sein Atem beruhigte sich. »Ich bin Architekt. Also fast. Ziemlich bald jedenfalls. Ich mach gerade mein Praktikum ...«
    Es wäre besser gewesen, er hätte den Mund gehalten. Janet wandte sich zur Balustrade der Dachterrasse um.
    »Heh bitte, dreh dich nicht weg, ich finde dich toll, so frei, einfach so deine tetas ... äh, entschuldige, aber ich würde gern mit dir ... äh, können wir nicht ...«
    Violett, grün, golden und strahlendweiß entfaltete sich die exotische Blüte einer Lichtorchidee über den Dächern von Barcelona. Das Krachen war von hier oben aus kaum zu hören.
    Die Stadt lag unter ihr wie ein Brillantencollier. Glitzernd und funkelnd bis zum Montjuic hinauf. Direkt unter ihr nur dunkle Hinterhöfe. Die letzten Reste der alten Industriebauten am Rande des Poble Nou. Des Neuen Dorfes. Auch diese Gebäude würden demnächst abgerissen und durch Neubauten und Grünflächen ersetzt werden. Ein paar Meter dahinter die palmengesäumte Straße, die Parks und der Strand. Sicher eine Verbesserung. Aber solche Ateliers und so ein Fest würde es hier nicht mehr geben.
    Als sie das erste Mal nach Barcelona gekommen war, 1964, da waren Bikinis verboten und Hosen für Frauen verpönt. Wein und Zigaretten waren spottbillig, und man konnte am Strand für ein paar Peseten einen Holztisch mit Stühlen mieten. Meer und Strand waren extrem verschmutzt, aber das störte keinen. Man ging nur ins Wasser, wenn der Wind günstig stand, und gegen die Ölbatzen an den Füßen hatte man Petroleum. Heute war das Meer sauber, und es gab jede Menge kleiner properer Strandbuden und Diskos, Sonnenschirme, Liegen und Lattenpfade über den Sand. Barcelona hatte sich in den letzten zwei Jahrzehnten mehr verändert als jede

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