Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
wissen, daß unsere Männer wehrlos in ihren Zellen sitzen.«
»Die Nachrichten aus dem Westen sind auch so schlecht, schwere Kämpfe um St. Nazaire, und Jochen ist dort eingeschlossen. Barbara kommt, jetzt habe ich wenigstens meine vier Töchter um mich, aber in was für einer furchtbaren Verfassung ist Ursula. Und dann am 17. August morgens, ich lag noch im Bett, ich war ja immer so erschöpft, kamen Tante Annie« – HGs Schwester – »und Onkel Adolf, und Annie sagt: ›Else, jetzt seid ihr allein!‹ Ach Kinder, nichts habe ich vergessen von der Qual, nichts! Und dann Ursula, wie sollte das Kind das tragen!« Kurt jun., das ist HGs Bruder, hatte über dessen Pflichtverteidiger von der Verhandlung am 15. August erfahren und daß die Hinrichtungen gleich danach vollstreckt worden seien. Else erhält unter dem Datum vom 29. September eine DIN-A-5-Nachricht vom Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof: »Der ehemalige Major Hans Georg Klamroth ist durch Urteil des Volksgerichtshofes des Großdeutschen Reiches wegen Hoch- und Landesverrats zum Tode verurteilt worden. Das Urteil ist vollstreckt. Im Auftrag« – unleserlich. Kein Todesdatum.
Ende Oktober schafft HGs Pflichtverteidiger schließlich Gewißheit: HG starb am 26. August. Else bekommt zwei Briefe, die er noch geschrieben hat – einen am Tag nach dem Urteil, den anderen unmittelbar vor seinem Tod. Den ersten erhält sie kurz vor Weihnachten, den zweiten im Februar 1945. Else im Kindertagebuch: »Zehn endlose Tage und zehn endlose Nächte hat er sterben müssen, das kann ich nie verwinden. Wie gern hätte Vater noch mit uns gelebt! Er hatte sehr viel Gottvertrauen und war tief religiös, gebe Gott, daß ihm das Kraft gab. Er schreibt mir: ›Lehre die Kinder beten, jetzt weiß ich, was das heißt.‹ Ich kann Euch nicht beten lehren, ich kann nur hoffen, daß diese Gnade Euch geschenkt ist. Mir ist sie nicht gegeben. Ursula hat von Bernhard keine Zeile, und das ist wahrscheinlich gut so. Bernhard wird gewußt haben, daß das zu viel gewesen wäre für das Kind.«
Niemand weiß, was HG in der Zeit zwischen Urteil und Hinrichtung widerfuhr. Es gibt keine Spur von ihm in diesen zehn Tagen, keine neue Aussage, die Aufschluß gäbe über eine weitere Vernehmung. Ich will nicht darüber nachdenken, ob und wie sich die SD-Leute die Zähne ausgebissen haben an ihm, bis sie schließlich begriffen, es bringt nichts. HG wird hingerichtet zusammen mit Adam von Trott zu Solz, mit Ludwig Freiherr von Leonrod und Otto Carl Kiep. Ich muß mich konzentrieren auf die Art, wie diese vier Männer sterben am 26. August 1944 zwischen 12 und ein Uhr mittags an einem strahlenden Sommertag.
Tod durch den Strang bedeutet nicht Genickbruch, jedenfalls nicht hier. Helmuth Graf Moltke hat seinen Mitgefangenen beim Rundgang zugeraunt: »Macht euch darauf gefaßt, es dauert 20 Minuten.« Vorschrift war, die Verurteilten 20 Minuten lang hängen zu lassen, um sicherzugehen, daß sie tot waren. Anweisung war auch: langsam erdrosseln. Ich lese bei Joachim Fest, bei Peter Hoffmann, bei Ian Kershaw, daß die Verurteilten in Sträflingskleidung zur Hinrichtung kamen, daß die Scharfrichter ihnen die schmale Schlinge um den Hals legten, sie bis zur Hüfte entkleideten, sie hochhoben und in den Haken hängten. Dann ließen sie die Männer fallen, nicht sonderlich heftig offenbar, und zerrten ihnen, während sie mit dem Tode kämpften, die Hosen herunter. Auf Fotos, die bei Hitler auf dem Kartentisch lagen, waren die Gehenkten nackt. Nach jeder Exekution, die noch nicht den Tod bedeutete, wurde ein schmaler schwarzer Vorhang vor den Erhängten gezogen, dann war der nächste an der Reihe. HG war nach Adam von Trott zu Solz der zweite.
Doch, ich will hinsehen. Ich will dabei sein, wenn HG stirbt. 20 Minuten sind länger als die Hölle. Ich will ihm sagen, er ist nicht allein, auch nach 60 Jahren nicht. Hier bin ich, die ihn begleitet hat durch sein ganzes Leben, und ich lasse ihn nicht los. Ich hätte gern mit dir gelacht, HG, deinen Witz genossen und deine Wärme, die jeden betörten. Ich wünsche mir eine lebendige Erinnerung an dich: Wie hast du gerochen, und hat dein Bart schlimm gekratzt? Ich hätte gern die Chance gehabt, dich zu lieben. Ich habe dich bestaunt in deiner Verschrobenheit als junger Mann, ich finde dich wunderbar wegen der guten Jahre mit Else, ich kann nicht verstehen, wie du den Nazis hast anheimfallen können. Es war nicht meine Zeit. Ich bin wütend auf dich wegen der
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