Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Händen, wie ich, ist er laut, impulsiv? Wenn er schreibt, und er schreibt viel, klingt er überlegt. Er verschreibt sich nie, auch mit der Maschine nicht. Er muß sich nicht korrigieren, weder im Satzbau, noch in der Orthographie, schon gar nicht in seinen Gedanken. Sehr aufgeräumt, das Ganze. Und die Schrift erst – klein gestochen leserlich sowohl in Sütterlin als auch in Latein. Er schreibt wie sein Vater – überhaupt mein Großvater, ob es sonst noch jemand gibt, vor dem er so viel Respekt hatte? Allein wie sie Fotoalben anlegen, alle beide – weiße Tinte, akkurate Randlinien um jedes Bild gezogen, minutiös beschriftet.
Und dann Else: Chaos im Kopf und in der Schrift, überbordend, ausladend, durcheinander. Riesige Buchstaben, auf- und absteigende Zeilen, durchgestrichen, drübergeschrieben. Wenn sie Formulare mit der Hand ausfüllt, tobt ihre Schrift wie ein gefangener Hund im Käfig. Es gibt ein großes Haushaltsheft – Etatplanung und Kostenübersichten für die Jahre 1938 bis 1943. Da haben sie beide abwechselnd Buch geführt – Hans Georg in schnurgeraden Zahlenkolonnen, kein Rechenfehler, nie ein Zweifel. Else trabt durch die Spalten, setzt zügig Fragezeichen, Fußnoten – lange Jahre nach dem Krieg hat sie noch mit solchen Abrechnungen gekämpft. Sie haben nie gestimmt, Else war immer verzweifelt, sie wäre so gern ordentlich gewesen.
In ihren Briefen – auch sie hat viel geschrieben – wirbelt sie von einem Thema ins nächste, beutelt die Grammatik und die Interpunktion, die Seiten sind übersät mit zweifelhaften Korrekturen. Sie lacht und weint ohne Übergang, moralische Aufrüstung für die aushäusigen Töchter mischt sich mit Schilderungen ihrer vielfältigen Beschäftigung als Managerin des großen Hauses mit vielen Gästen. Der Kampf mit 20 Zentnern Erbsen und widerspenstigen Weckgläsern führt sie direkt zu der Feststellung, daß Gottes Ratschluß selten überzeuge, irgend jemand »zum Donnerwetter« den Silberschrankschlüssel vermüllt habe und daß außerdem sie, Else, sich mit Hegel doch gern »über das eine und andere mal auseinandergesetzt« hätte.
Sie haben gelacht über diese scheinbare Unvereinbarkeit, jeder über den anderen und beide miteinander. Dabei war Else später, als ich sie als Mensch wahrgenommen habe und nicht mehr als Mutter, eher pathetisch, hochgradig sentimental, vor allem traurig. Sie wäre gern viel eher gestorben, fast 90 war sie 1987 und hatte schon 25 Jahre vorher, nachdem die Sorge um ihre fünf Kinder sich überlebt hatte, keine Lust mehr. Früher, lange vor meiner Zeit oder vielleicht auch noch in meinen ersten Kindertagen, müssen beide – Else und Hans Georg – ein Genuß gewesen sein. Freunde von damals haben mir vorgeschwärmt von beider Witz, ihrer Zugewandtheit, ihrer Fähigkeit, Menschen um sich zu scharen und sie zu halten.
Kinder, behaupte ich, interessieren sich für ihre Eltern nur als Ressource. Das Verhältnis ist Ich-bezogen: Wie weit werde ich beschützt, versorgt, gefördert. Wer die Eltern sind, was sie fühlen, ob sie glücklich sind, geht an Kindern vorbei. Der Mensch, den Freunde erkannt, geliebt, begleitet haben – das Kind kennt ihn nicht. Bis nach dem Tod der Eltern – vielleicht –, wenn Nachfrage nicht mehr Indiskretion und Grenzüberschreitung bedeutet. Kinder, auch meine Kinder, werden bei aller Zärtlichkeit auf Distanz gehalten, suchen ihrerseits die Distanz. Die Verstörung der Eltern ist immer eine Bedrohung. Eltern muten sie ihren Kindern nicht zu, und was erwachsene Kinder dem Freund erlauben, die Belastung mit dessen persönlichem Scheitern etwa, bei Eltern fürchten sie sich davor.
In meiner Psychoanalyse, Anfang der 90er Jahre, kam ich an die Eltern nicht wirklich heran. Ich war und bin auch heute nicht bereit, meiner Mutter kindliche oder auch spätere Probleme anzulasten – sie war nervig, natürlich, sie war überfordert und ich in Folge ziemlich allein. Hätte sie das ändern können? Für den Vater hatte ich mir eine unverfängliche Position gesucht: Ich habe ihn nicht gekannt, folglich ging er mich nichts an. Er hat mir nie gefehlt – Millionen Töchter meiner Generation sind aufgewachsen ohne Väter. Ich hielt ihn mir vom Hals. Ich wollte nichts über ihn wissen. Er war eine offene Wunde im Leben meiner Mutter, und ich habe ihn erfahren als ihren Verlust. Sie hat darüber geschwiegen. Heute weiß ich, daß viele der 20. Juli-Witwen gegenüber ihren Kindern geschwiegen haben. Es
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