Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Demütigungen, die du Else zugefügt hast, und ich finde dich, den Mann, deswegen lächerlich. Vielleicht sollte ich weniger anmaßend sein. Ich bin verstört über das, was ich als deine Gleichgültigkeit verstehen muß gegenüber dem Schicksal der Juden, der Zwangsarbeiter, der Geisteskranken, der Häftlinge in den KZs, Himmlers »Untermenschen« in den besetzten Gebieten. Habe ich dich mißverstanden, weil du nie etwas gesagt hast? Jetzt stirbst du als »Untermensch«. Sie haben dir den geistlichen Beistand versagt, um den du gebeten hast. Doch du hast deinen Ölberg hinter dir und du bist ein Held in deinem Tod. Dein Leben lag in einer fürchterlichen Zeit, und wenn es denn für die Kinder besser werden sollte, das ist gelungen. Du hast den Blutzoll bezahlt, den ich nicht mehr entrichten muß. Ich habe von dir gelernt, wovor ich mich zu hüten habe. Dafür ist ein Vater da, nicht wahr? Ich danke dir.
E PILOG
N OCH EINMAL MUSS ICH ZURÜCK NACH H ALBERSTADT . Else bekommt einen Berg Kondolenzbriefe – viele davon anonym. Nicht alle Freunde sind noch da, Teile der Familie verhalten. Else wird aus der Partei und der NS-Frauenschaft ausgeschlossen, Ursula, die frühere Ringführerin, auch. Am 2. Dezember 1944, dem Vorabend des 1. Advent, taufen sie Bernhards und Ursulas Sohn, ein letztes Mal im Haus mit den Familien-Preziosen und dem kostbaren Taufkleid von Dagmar Podeus – der Junge heißt Jörn Günter, ein kleiner I. G. Klamroth, trotzige Hoffnung inmitten von Hoffnungslosigkeit. Jörns Taufspruch ist der Trauspruch seiner Eltern: »Das Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in Kraft«.
Von Jochen erfährt die Familie, als er 1946 endlich wieder zuhause ist, daß er im August 1944 in Frankreich aus der Wehrmacht ausgestoßen und in die Strafeinheit 666 gesteckt worden war, eine bunt gewürfelte Ansammlung von Kriminellen und Deserteuren, die zu Einsätzen mißbraucht wurden, über die der Bruder bis heute nicht reden kann. Damals war er 19. Die 21jährige Barbara wird in Wien von der Universität verwiesen und zwangsverpflichtet in eine chemische Fabrik in Goslar. HGs Bruder Kurt jun., Jahrgang 1904, bisher uk gestellt als Oberregierungsrat im Reichserziehungsministerium, erhält am 27. August 1944, einen Tag nach HGs Tod, seine Einberufung in eine Flak-Einheit an der Ostfront. Am 27. Oktober folgt die Versetzung in die berüchtigte Kompanie Dirlewanger, eine »Bewährungseinheit« der Waffen-SS, in der ursprünglich nur Schwerverbrecher als Kanonenfutter verwandt wurden. Ab 1944 waren es zu 90 Prozent KZ-Insassen, politische Häftlinge, die auf diese Weise liquidiert werden sollten. Unbehelligt bleiben HGs Eltern, Else, Ursula und die beiden kleinen Kinder Sabine und ich.
Jenny, das russische Zwangsarbeitermädchen, wird in eine Munitionsfabrik gesteckt, bei jeder Gelegenheit sucht sie Trost am Bismarckplatz. Hans Litten, HGs »Privatsekretär« und Sohn eines jüdischen Vaters, landet in einem Zwangsarbeiterlager bei Magdeburg, eine Katastrophe auch für die Firma. Das Haus ist bis zum Dachboden voll mit Bombenflüchtlingen, Familie, Freunden, Fremden, vielen unbekümmerten Kindern. Kopfläuse, schwere Frostbeulen bei fast jedem, keine Kohlen, Tag und Nacht Alarm, Gertrud in ihrem Tagebuch: »Wir sind mehr als 50 Personen im Keller.« Sie lesen »Wallenstein« mit verteilten Rollen, die Kinder lernen »Die Glocke« und den »Zauberlehrling« auswendig – »geistiges Eigentum« für die Verschleppung nach Sibirien. Else nach dem Krieg: »Ich war wie versteinert in all dem Wirbel, den ich zu dirigieren hatte. Aber es ging. Natürlich ging es.«
Die Polizei kommt noch ein paarmal ins Haus, am 6. September 1944 beschlagnahmt sie das Vermögen – nicht nur das der Männer, sondern Elses und Ursulas und das von uns Kindern. Was heißt Vermögen – jede Teetasse und jedes Paar Strümpfe werden registriert, ich finde lange Verzeichnisse, die den Hausrat, die Bücher, die Bilder, selbst mein Spielzeug auflisten. Möchte man sich vorstellen, was für trübe Arbeit das gemacht hat, und niemand gibt Auskunft, wozu? Sollen die Sachen aus dem Haus geschafft werden und wohin? Als Else HGs Uniformen, seine Reitausrüstung, die Garderobe für seine Sportwagen-Fahrten an die Sammlung des »Deutschen Volksopfers« geben will, braucht sie dafür eine Genehmigung. Eine nicht enden wollende Korrespondenz mit dem Vorsteher des Finanzamts dreht sich um die Bezahlung von Rechnungen aus der Zeit vor der
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