Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
bewundernd. »Ihr seid wahrhaftig der weiseste Mann der Welt, und ein Dummkopf wie ich muß sich vor Eurer Genialität verneigen.«
Der Alte vom Berg lächelte vergnügt, gab den Weinschlauch zurück. Li Kao verbeugte sich und trank durstig.
»Mir scheint, Euer Herz muß immer noch irgendwo schlagen«, sagte Meister Li nachdenklich. »Wäre es sicher, das Herz in einen Kieselstein oder eine Schneeflocke zu verwandeln? Aber ein verwandeltes Herz ist nicht länger ein Herz. Eine vereinfachende Feststellung, aber intuitiv vielleicht richtig.«
»Sie ist beinahe völlig richtig«, stimmte der Alte vom Berg zu. »Ein Herz kann man nicht in eine Schneeflocke verwandeln, ohne es zu töten, es sei denn, man verwandelt den ganzen Menschen in eine Schneeflocke. Aber man kann ein Herz verstecken. Natürlich nutzt das nur etwas, wenn es sich um ein sehr gutes Versteck handelt, und Ihr könnt Euch die Dummheit mancher meiner Schüler nicht vorstellen. Einer dieser Narren war so töricht, sein Herz in einer Eidechse zu verstecken, die in einem Käfig saß, der auf dem Kopf einer Schlange stand, die auf der Spitze eines Baumes lag, der von Löwen, Tigern und Skorpionen bewacht wurde! Ein anderer Schwachkopf, und Buddha möge mich strafen, wenn ich lüge, verbarg sein Herz in einem Ei im Innern einer Ente, die in einem Korb saß, der in einer Truhe lag, die auf einer Insel stand, die sich inmitten eines unbekannten Meeres befand. Ich muß nicht betonen, daß diese beiden Toren von den ersten einfältigen Helden vernichtet wurden, die des Weges kamen.«
Er griff nach dem Schlauch, nahm einen tiefen Schluck und reichte ihn zurück.
»Ihr würdet nicht so dumm sein«, sagte er, »also versucht, einen Schatz aufzutreiben, der so kalt ist wie dieser hier... ein Mann ohne Herz liebt kalte Dinge, und es gibt nichts Kälteres als einen Schatz.
Und wenn Ihr zurückkommt, werde ich Euch das Herz herausnehmen, und Ihr werdet es gut verstecken. Solange es schlägt, könnt Ihr nicht getötet werden, und nichts ist schlimmer als der Tod.« Plötzlich bemerkte ich, daß Li Kao sich nur mit allergrößter Mühe beherrschen konnte. Er ballte immer wieder die Fäuste, und er konnte nicht verhindern, daß in seiner Stimme ein Anflug von Abscheu lag. »Es gibt Dinge, die weit schlimmer als der Tod sind«, entgegnete Meister Li.
Der Alte vom Berg richtete sich plötzlich auf. Ich wich ängstlich zurück, als ich das kalte Feuer in seinen Augen sah. »Ich verkaufe meine Geheimnisse nicht billig«, sagte er leise. Der Alte vom Berg stampfte mit dem Fuß auf, ein breiter Spalt öffnete sich in der Erde, und unsere armen Maultiere wieherten vor Entsetzen, als sie mit den Karren in die Tiefe stürzten. Der Alte machte eine Handbewegung, und der Spalt schloß sich, als habe es ihn nie gegeben.
»Es ist gefährlich, mir die Zeit zu stehlen«, flüsterte er. Der weiseste Mann der Welt hob den Finger an die Lippen und blies. Eine schwarze Wolke verdunkelte die Sonne, der Wind heulte, wir wurden hoch in die Luft geschleudert und wirbelten unaufhörlich in einem schwarzen Trichter herum und herum. Mit uns trieben Steine, Erde, abgerissene Äste und kleine schreiende Tiere durch die Luft. Der Wirbelsturm tanzte den Berg hinunter, und ich versuchte, den zerbrechlichen Li Kao mit meinem Körper zu schützen, während Äste mich schlugen und der Wind ohrenbetäubend heulte. Herum und herum, hinunter und hinunter, dann schien uns die Erde entgegenzuspringen, und wir landeten mit einem solchen Aufprall, daß mir die Sinne schwanden.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich, daß wir auf weichem Buschwerk gelandet waren. Wären wir auch nur zehn Fuß weitergeflogen, wären wir über eine hohe Steilwand gestürzt. Tief unten glänzte ein Fluß in der untergehenden Sonne, am Ufer stand bewegungslos ein Junge, und halbverborgen hinter Bäumen lag ein Dorf. Vögel kreisten im kalten Abendwind, der von den schneebedeckten Gipfeln herunterwehte. Irgendwo sang ein Holzfäller ein wehmütiges Lied.
Li Kao hatte mir die Beule am Kopf verbunden. Er saß mit gekreuzten Beinen am Rand des Abgrundes und hielt den Weinschlauch in seinen Armen. Ich blickte zu den fernen Gipfeln hinauf und schien ein leises Lachen zu hören, das klang, als würden Steine über Eisen rollen.
»Meister Li, vergebt mir die freche Bemerkung, aber wenn die Suche nach der Weisheit zu dem Alten vom Berg führt, dann kann ich mir nicht helfen, aber ich glaube, die Menschen wären besser beraten, dumm zu
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