Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
sitzen darauf.«
Ich blickte mich unruhig auf der Mauer nach etwas Raffiniertem um, doch das einzige Raffinierte, was ich sah, war eine Eidechse, die sich an eine Fliege heranpirschte.
»Vor vielen Jahren träumte ein General zufällig, er sei in den Himmel befohlen worden, und als er von der Audienz beim Himmelskaiser zurückkehrte, mußte er entdecken, daß seine Pläne soweit geändert worden waren, daß er das Drachenkissen an dieser absurden Stelle bauen sollte«, sagte Meister Li. »Dann liefert ein Orakel zufällig einen Geistwächter namens Wan, und ein paar Jahrhunderte später fangen ein paar Dorfkinder an, ein Spiel zu spielen.«
Meister Li beendete seine Mahlzeit und wies mit einem Eßstäbchen auf mich.
»Der Herzog von Ch'in löschte beinahe alle Spuren der Prinzessin der Vögel aus, als er die Bücher verbrannte, Priester und Gläubige umbrachte, Tempel zerstörte und Geschichtenerzähler enthaupten ließ. Aber er vergaß ein Kinderspiel«, sagte Meister Li. »Ochse, es gibt so etwas wie ein Rassengedächtnis, das Ereignisse bewahrt, lange nachdem die historische Vergangenheit in Asche und Staub gesunken ist. Einer der Wege, durch die sich dieses Gedächtnis Gehör verschafft, sind die Spiele und Lieder der Kinder. Als die Kinder an jenem Tag hierher zur Mauer kamen, begannen sie, das I lüpf-Versteck-Spiel zu spielen, das zufälligerweise die Geschichte des Herzogs von Ch'in und der Prinzessin der Vögel erzählt.«
Ich starrte ihn fassungslos an.
»Jadeperle war ein Ginsengkind, und zwar in dem Sinn, daß ihre Patin die Ginsengkönigin war«, fuhr Meister Li fort. »Wie fängt man ein Ginsengkind?«
»Mit einem roten Band«, erwiderte ich.
»Wie verkleidete sich der Herzog, als er sich den Zofen näherte?« Ich dachte an das Gemälde in der Höhle der Glocken. »Als hinkender Hausierer, der sich auf eine Krücke stützt«, antwortete ich. Li Kao begann, die kranken Jungen in den Betten im Kloster nachzuahmen. Er zog die Schultern hoch und griff in die Luft. Dann ahmte er die Mädchen nach, die etwas durch die Luft zu ziehen schienen. »Die Jungen spielen den lahmen Hausierer, der auf einem Bein hüpfen muß, obwohl ihnen das natürlich nicht bewußt ist«, erklärte er. »Sie versuchen, die roten Bänder der Mädchen zu packen. Und den Mädchen ist nicht bewußt, daß sie Ginsengzofen sind, die getötet werden. Das letzte Mädchen wird zu Jadeperle, doch die Prinzessin der Vögel kann nicht getötet werden, denn sie hat den Pfirsich der Unsterblichkeit gegessen. Der Junge, der ihr rotes Band erobert hat, versteckt sie deshalb. Er ist jetzt der Herzog, und die anderen Kinder werden die Vögel Chinas. Sie verbinden sich die Augen, denn die Vögel können ihre Prinzessin nicht mehr sehen, nachdem sie die Krone verloren hat. Durch Tasten versuchen sie, die Prinzessin zu finden und zu retten, aber die Zeit dafür ist begrenzt. Also, weshalb zählt der Herzog bis neunundvierzig?« Ich bin normalerweise nicht so intelligent, aber die Antwort schoß mir unaufgefordert durch den Kopf.
»Sieben mal sieben«, erwiderte ich. »Jadeperle könnte fliehen, wenn sie den Sternenhirten vor dem siebten Tag des siebten Monats erreicht. Aber Meister Li, weshalb könnte es nicht zehn oder zwanzig andere Deutungen des Hüpf-Versteck-Spiels geben?«
»Ginseng«, erwiderte er ohne zu zögern. »In dem Augenblick, als die Kinder deines Dorfes eine winzige Probe der Großen Wurzel geschluckt hatten, regte sich ihr Rassengedächtnis, und sie begannen instinktiv, ihr Ginsengspiel zu spielen. Eine etwas stärkere Dosis weckte eine tiefersitzende Erinnerung und eine Erkenntnis, die dem Bewußtsein der Kinder entfallen war, die es zum ersten Mal erlebt hatten. Sobald sie begonnen hatten, den Kinderreim zu singen, gelang es ihnen, die Prinzessin der Vögel zu finden. Es war kein Zufall, Ochse, daß Affe die Hand ausstreckte und Fangs Reh berührte.«
Li Kao begann, mit seinen Eßstäbchen langsam und rhythmisch auf den Rand seiner Eßschale zu schlagen.
»Der Geist des armen Wan muß sehr einsam gewesen sein«, fuhr er fort. »Auch Geister haben teil am Rassengedächtnis, und als er sah, daß die Kinder das Hüpf-Versteck-Spiel spielten, begriff er, daß die Frage, die das Spiel stellt, lautet: Wo ist die Prinzessin der Vögel? Wo hält der lahme Hausierer sie versteckt?« Wan kannte die Antwort. Er wollte an dem Spiel teilnehmen, doch er war entschlossen, fair zu spielen. Wie oft hatte er die Rätselreime der Kinder
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