Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Ihr zu mir, um das Geheimnis der Unsterblichkeit zu erfahren. Dabei ist das so einfach, daß es eigentlich überhaupt kein Geheimnis ist.«
»Ich werde Euch alles, was ich habe, für dieses eine Geheimnis geben«, sagte Meister Li und schob das Stroh auf dem Karren beiseite, unter dem unsere Beute versteckt lag. Der Alte vom Berg griff mit beiden Händen in den Schatz.
»Kalt«, sagte er vergnügt, »seit Jahren habe ich keinen Schatz mehr berührt, der so kalt war wie dieser! Ja, dieser Schatz ist so kalt, daß ich Euch das Geheimnis sofort verraten werde, anstatt wie üblich noch eine Weile mit Euch zu spielen.«
Li Kao verbeugte sich und bot ihm den Weinschlauch an. Der Alte vom Berg trank und wischte sich mit dem Bart die Lippen. »Kennt Ihr die ungesäumten Gewänder der Götter? Die Jadegürtel und die goldenen Kronen? Eines dieser Dinge genügt«, sagte er. »Wartet bis zum neuen Jahr, wenn die Götter zur Erde kommen, um sich vom Zustand der Welt zu überzeugen. Dann stehlt Ihr ein Gewand oder eine Krone. Solange Ihr das eine oder das andere besitzt, werdet Ihr nicht älter, aber ich rate Euch, wartet damit nicht zu lange. Ich selbst war weit über zweihundert Jahre alt, als ich einen Jadegürtel gestohlen habe, und selbst der Alte vom Berg kennt kein Geheimnis, das die Jugend zurückbringt.« Meister Li warf den Kopf zurück und lachte.
»Haltet Ihr mich für einen Dummkopf? Was nützt es, nicht zu altern, wenn man im Handumdrehen durch einen Insektenstich oder einen Sturz von der Treppe ausgelöscht werden kann? Unsterblichkeit ist ein leeres Wort, solange nicht Unverletzlichkeit damit einhergeht. Alter vom Berg, allmählich habe ich den Verdacht, Ihr seid ein Schwindler.«
Der Alte vom Berg zwinkerte ihm zu und gab den Weinschlauch zurück.
»Ihr wollt mich zu einer Unvorsichtigkeit verlocken, mein Freund mit dem kleinen Charakterfehler. Glaubt Ihr, ich sehe nicht, daß Ihr in der Tasche eine Visitenkarte mit dem Zeichen eines halbgeschlossenen Auges habt? Oder glaubt Ihr, ich denke nicht darüber nach, weshalb ein alter Fuchs mit einem Grünschnabel reist?« Er drehte sich um und winkte mich mit dem Finger zu sich. »Komm her, Junge!« befahl er.
Die pechschwarzen Augen brannten ein Loch in mein Herz, und ich besaß keinen eigenen Willen mehr. Ich lief wie ein mechanisches Spielzeug auf ihn zu, und seine Augen blickten in meinen Kopf. Was der Herzog von Ch'in getan hatte, war nur eine schwache Nachahmung des Alten vom Berg gewesen.
»Mich trifft der Schlag!« rief er. »Da sind die drei Zofen, die Flöte, die Kugel und die Glocke, selbst die Federn und die Krone, allerdings nur verschwommen wahrgenommen. Also du hoffst, die Große Wurzel der Macht zu rauben? Junge, du bist eine lebende Leiche.« Er kicherte, ließ meinen Geist los, ich taumelte rückwärts und wäre beinahe gestürzt.
»Laßt den Grünschnabel ruhig ziehen. Soll er doch den Tod finden«, sagte er leise zu Li Kao. »Er kann ein X nicht von einem U unterscheiden. Aber Ihr scheint Vernunft zu besitzen. Stehlt etwas, das einem Gott gehört, und kommt dann mit einem zehnmal so großen Schatz zurück. Und wenn er so kalt ist wie dieser hier, werde ich Euch das Geheimnis der Unverwundbarkeit verkaufen, das dem Wort Unsterblichkeit erst seine wahre Bedeutung gibt, wie Ihr richtig erkannt habt.«
Li Kao hob den Weinschlauch und reichte ihn dem Alten vom Berg. »Aber gibt es ein solches Geheimnis überhaupt?« überlegte er laut. »Alles, was ein Herz besitzt, kann getötet werden. Zwar gibt es bei den Bauern unzählige Geschichten von Menschen ohne Herz, aber ich habe sie immer für allegorische Märchen gehalten, mitunter sehr kunstvolle Märchen, aber sie entlarven eher einen Charakter, als etwas über die Anatomie auszusagen.«
»Nicht eine unter hundert solchen Geschichten ist wahr, aber wenn Euch eine zu Ohren kommt, die wahr ist, könnt Ihr sicher sein, daß der weiseste Mann der Welt etwas damit zu tun hat, denn ich allein habe das Geheimnis entdeckt«, erklärte der Alte vom Berg. »Ihr zweifelt daran, mein Freund mit dem kleinen Charakterfehler? Staunt über den Mann, der den Göttern gleichkommt!« Er öffnete sein Gewand, und ich fiel beinahe in Ohnmacht, denn an der Stelle, wo einmal sein Herz gewesen war, befand sich ein Loch. Ich konnte hindurchblicken. Ich sah die Steinsäule hinter ihm, die im Sonnenschein glänzte, den Gong, den Hammer und den unheimlichen schwarzen Eingang zur Höhle.
»Phantastisch«, rief Meister Li
Weitere Kostenlose Bücher