Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
bleiben«, sagte ich.
»Aber es gibt mehr als eine Art der Weisheit«, erwiderte Meister Li. »Es gibt die Weisheit des Gebens und die Weisheit des Nehmens, und es gibt die Weisheit des Himmels, die für Menschen unergründlich ist.« Er hob den Weinschlauch an die Lippen. »In diesem Fall wird der Himmel ergründbar«, sagte er, als er ihn wieder absetzte. Zu meiner Verblüffung sah ich, daß Meister Li so glücklich wie ein kleiner Junge mit einem großen Hund war.
»Hahnrei Ho hat uns ein Drittel der Lösung zu dieser verrückten Aufgabe erzählt, und nach dem, was der Alte vom Berg gesagt hat, besitzen wir zwei Drittel«, erklärte er zufrieden. Er deutete hinunter zum Flußufer, wo sich inzwischen mehrere Jungen zu dem einen gesellt hatten. »Was machen die Kinder dort unten?« Ich blickte hinunter und erwiderte achselzuckend: »Sie spielen.«
»Kinderspiele!« Meister Li kicherte glücklich. »Rituale, Rätsel und Kinderreime!« Zu meiner Verwunderung sprang er plötzlich auf, hob den Weinschlauch zum Himmel und rief: »Jadekaiser, du hast die Nerven eines Meisterdiebs!«
Unruhig wartete ich auf einen Blitzschlag, aber nichts geschah. »Komm schon, Ochse, wir müssen eiligst in dein Dorf zurück, um das dritte Drittel des Rätsels zu finden«, sagte Meister Li und trottete den Abhang hinunter.
Der Alte vom Berg hatte uns an den äußersten Rand der Zivilisation geblasen, und wir arbeiteten uns durch eine sehr seltsame Landschaft vorwärts. Flaches rissiges Land erstreckte sich bis zu fernen Bergen in phantastischen Formen, die an zerdrückte Pilze erinnerten.
Ein kalter Wind fuhr seufzend über eine zwölfhundert Meilen weite Steppe. Hin und wieder erreichten wir eine trostlose Ebene, aus der mit beinahe mathematischer Präzision zahllose Erdhügel aufragten; auf jedem Hügel hockte ein Gaffer auf den Hinterbeinen und beobachtete mit großen verwunderten Augen, wie wir vorüberzogen. Einmal rannte ein riesiges Heer von Ratten auf uns zu, aber als sie uns erreichten und an uns vorbeiströmten, sah ich, daß es keine Ratten, sondern Wurzeln, die berühmten rollenden Wurzeln der Pengpflanze waren, die vom Wind zu einem unvorstellbaren Ziel am Ran, am äußersten Rand der Welt getrieben wurden. Allmählich wuchsen auf den kahlen Bäumen verstreute Bäume; wir erreichten Täler, in denen es wieder grünte. Endlich ging das Land in eine Gegend über, die mir sehr vertraut war. Schließlich stiegen wir auf einen Hügel, und ich entdeckte fern im Dunst die Umrisse des Drachenkissens, und ich war sehr erleichtert, als Meister Li erklärte, das sei unser Ziel. Ich hätte es nicht ertragen können, den Eltern ohne Ginseng für die Kinder von Ku-fu unter die Augen zu treten. Wir erreichten die Mauer, als zarte violette Schatten wie Katzen über das grüne Tal schlichen. Die Vögel stimmten die letzten Lieder des Tages an, während wir über die alten Steine zum Auge des Drachens hinaufkletterten. Li Kao setzte sich auf den Boden des Wachturms und nahm den Deckel von einer Schale Reis, die er im letzten Dorf gekauft hatte. Eine Weile aß er schweigend, dann sagte er: »Ochse, Geheimnisse hören auf, Geheimnisse zu sein, wenn man sie aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet. In diesem Fall müssen wir den richtigen Blickwinkel finden, indem wir uns an die Worte erinnern, die der Herzog von Ch'in nicht einmal, sondern zweimal gebraucht hat. Ihr sucht die richtige Wurzel aus dem falschen Grund.« Deutet das nicht darauf hin, daß wir vielleicht unwissentlich in eine ganz andere Suche hineingeraten sind, als wir es uns zur Aufgabe machten, die Große Wurzel der Macht zu finden? Wir dürfen annehmen, daß der Herzog glaubte, wir suchten möglicherweise etwas anderes. Und diese Vorstellung versetzte ihn in Todesangst. Was könnte einen Herzog in Angst und Schrecken versetzen, der so mächtig ist wie der Herzog von Ch'in?«
Meister Li aß etwas mehr Reis und beobachtete, wie die Schatten an der Mauer hochkletterten und wies mit dem Eßstäbchen auf die Singvögel.
»Nehmen wir an, Hahnrei Hos Geschichte beruht auf Tatsachen, und zwar im Sinne historischer Ereignisse, die im Laufe der Jahrhunderte in das konventionelle Gewand des Mythos gekleidet wurden. Es gab tatsächlich eine niedere Gottheit mit dem Namen Prinzessin der Vögel, obwohl sie nicht unbedingt so gewesen sein muß, wie sie in der Geschichte beschrieben wird. Sie trug tatsächlich eine Krone, die drei Federn vom König der Vögel schmückten. Wir müßten so
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