Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

blind wie Neokonfuzianer sein, um nicht zu erraten, was geschah«, fuhr er fort. »Der Herzog von Ch'in kaufte von dem Alten vom Berg das Geheimnis der Unsterblichkeit, und er erfuhr, daß er als erstes etwas stehlen mußte, was einer Gottheit gehörte. Er überlistete und ermordete Jadeperies Zofen, entführte die Prinzessin und stahl ihr die Krone. Danach nahm ihm der Alte vom Berg das Herz aus dem Leib, und deshalb lacht der Bursche gutmütig über Beile in der Brust und über tödliche Mengen Gift. Natürlich war es die ganze Zeit derselbe Herzog. Der Tyrann, der alle Bücher Chinas verbrannte, hockt seit dieser Zeit im Schloß des Labyrinths und verbirgt sich hinter der Maske eines brüllenden Tigers.«
    Mir wurde ganz schlecht, wenn ich an den Herzog und seine Spielgefährten wie Die Hand, die Niemand Sieht, dachte. Er hatte den weisesten Mann der Welt nicht nur dafür bezahlt, daß er ihm das Herz entfernte. Der Herzog von Ch'in hatte auch das Geheimnis gekauft, das ihm ermöglichte, in den Köpfen von anderen zu lesen und das Geheimnis der Herrschaft über die Wesen, die im dunkeln Innern der Erde hausen. Welche Chance hatten wir, gegen einen Schüler des Alten vom Berg zu gewinnen?
    »Jadeperle besaß etwas, das beinahe ebenso wertvoll war wie ihre Krone«, fuhr Meister Li fort. »Sie hatte eine Patin. Mit Sicherheit entging einem so habgierigen Burschen wie dem Herzog die Tatsache nicht, daß die Ginsengkönigin die wertvollste Pflanze auf der ganzen Erde sein mußte. Mit Jadeperle als seiner Gefangenen war es ihm wahrscheinlich auch gelungen, ihre Patin in seine Gewalt zu bekommen. Ich möchte jetzt noch etwas behaupten: Die Große Wurzel der Macht ist die Ginsengkönigin, und deshalb sind die beiden Aufgaben miteinander verbunden.« Li Kao blickte nachdenklich zum Himmel auf.
    »Ochse, der Himmel der Chinesen ist allen anderen weit überlegen, denn nichts ist dort absolut mit einer einzigen Ausnahme: das Gesetz! Die höchste Gottheit ist an die Regeln des Kaiserlichen Buches der Etikette gebunden, und wenn der Himmelskaiser diese Regeln nicht einhält, wird er auf der Stelle abgesetzt. Auf diese Weise überließ der Himmlische Meister des Ersten Ursprungs dem Jadekaiser seinen Thron, und der Himmlische Meister des Jademorgens vom Goldenen Tor steht bereit, um die Herrschaft anzutreten, sobald der Jadekaiser zu groß für seine Sandalen wird. Als die Lieblingsgöttin des Kaisers ihre Krone verlor und nicht zu dem Sternenhirten zurückkehrte, stand sie nicht länger unter dem Schutz des Himmels, und das Kaiserliche Buch der Etikette läßt keine Entschuldigungen gelten. Was sollte der Kaiser tun? Direktes Eingreifen hätte ihm den Thron gekostet. Wenn er also tatsächlich etwas tat, mußte er sehr gerissen vorgehen.«
    Meister Li beugte sich vor und lachte, bis ihm die Tränen über das Gesicht rollten.
    »Ich sehe Seine Himmlische Majestät förmlich auf dem Thron sitzen mit dieser verdammten Gouvernante von einem Buch auf dem Schoß!« Er kicherte. »Und ich sehe, wie seine Augen prüfend über die Erde schweifen, und ich sehe, wie er sich kerzengerade aufrichtet, als zwei prima Kerle namens Li Kao und Nummer Zehn der Ochse sich auf den Weg machen, um die Große Wurzel der Macht zu suchen. Was ist falsch daran zu versuchen, den armen Kindern des kleinen Dorfes Ku-fu zu helfen?« fragt er sich ganz vernünftig. »Schließlich sind solche Aufgaben der Grund meines Daseins!« Also tauchen Pfandleiher Fang und Ma die Made auf, um uns zu erzählen, daß der Herzog die Wurzel besitzt... und wenn sie zufällig noch eine Tontafel ausgraben, auf der die Geschichte von Jadeperle aufgezeichnet ist? »Zufälle gibt es immer«, seufzt der Jadekaiser. Fang und Ma tauchen noch einmal auf, um uns und Geizhals Shen bei der Flucht von einem Turm zu helfen... Und wenn Shen uns etwas über den Alten vom Berg erzählt? Zufälle gibt es immer«, seufzt der Jadekaiser. Die Bambuslibelle fliegt geradewegs zu der Höhle der Glocken, und nachdem wir uns eingehend das Gemälde mit dem Hausierer angesehen haben, treffen wir wieder mit Hahnrei Ho zusammen, der inzwischen die Geschichte der Prinzessin der Vögel entziffert hat. Zufälle gibt es immer«, seufzt der Kaiser, und schließlich helfe ich ihnen ja nur, die Wurzel zu finden, mit der sie vielleicht die Kinder von Ku-fu retten können.« So weit so gut. Aber jetzt wollen wir uns etwas wirklich Raffiniertes ansehen, und das sollte eigentlich nicht so schwierig sein, denn wir