Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Jadekaiser.
Plötzlich stürmte ein Elefant herein und zermalmte den Hauptmann. Ich dachte zumindest, es sei ein Elefant, bis ich erkannte, daß es sich um die Ahne handelte. Bei diesem unglaublichen Anblick fiel mir der Unterkiefer herunter.
»Hack-hack!« schrie Hahnrei Ho. »Hack-hack-hack-hack-hack!« Er hatte kein Recht, noch am Leben zu sein. Bei jedem Schritt schoß ihm das Blut aus zwanzig Wunden, aber er kümmerte sich nicht darum. »Rettet mich!« schrie die Ahne und zermalmte mit ihren fünfhundert Pfund drei weitere Soldaten, die sie vielleicht gerettet hätten. In wenigen Minuten war alles vorbei.
Die Ahne rannte im Kreis und zertrampelte alles, was ihr vor die Füße kam, und Hahnrei Ho schwang die Axt und zerhackte alles, was er sah. Li Kao wirbelte wie der Wind durch das Blutbad und schlitzte Kehlen auf, und ich schlug mit meinem Schwert wie mit einem Dreschflegel um mich. Gegen Ende wurde es ziemlich unerfreulich, denn wir stolperten und rutschten dauernd über Stücke der Ahne. Schließlich ließen wir den letzten erschlagenen Soldaten liegen, taumelten zu Hahnrei Ho und knieten neben ihm nieder. Er lag auf dem Rücken und umklammerte immer noch die Doppelaxt mit beiden Händen. Das Leben entströmte ihm mit dem roten Blut. Sein Gesicht war aschgrau, und seine Augen bemühten sich, uns wahrzunehmen. »Hab ich sie erwischt?« flüsterte er.
»Ho, Ihr habt das Ungeheuer in tausend Stücke zerhackt«, erklärte Meister Li stolz.
»Ich bin so glücklich«, flüsterte der sanfte Gelehrte. »Jetzt müssen meine Ahnen sich nicht schämen, mich zu begrüßen, wenn ich in die Hölle komme, um gerichtet zu werden.«
»Leuchtender Stern wird Euch erwarten«, sagte ich »O nein, das wäre viel zuviel verlangt«, erwiderte er ernst. »Ich wage die Yamakönigin höchstens darum zu bitten, als eine schöne Blume wiedergeboren zu werden, damit irgendwann und irgendwo ein Tanzmädchen mich vielleicht pflückt und in ihrem Haar trägt.«
Die Tränen traten mir in die Augen, und er strich mir sanft über die Hand.
»Weine nicht um mich, Nummer Zehn der Ochse. Ich bin dieses Lebens so müde, und ich sehne mich schon lange danach, auf das große Rad der Wandlungen zurückzukehren.« Seine Stimme wurde schwächer, und ich beugte mich über ihn, um seine letzten Worte zu hören. »Unsterblichkeit ist nur etwas für die Götter«, flüsterte er, »und ich frage mich, wie sie das ertragen können.«
Er schloß die Augen, die Axt fiel zu Boden, und die Seele Hahnrei Hos löste sich von seinem Körper.
Wir trugen ihn hinaus in den Garten. Es war kalt und wolkig, und als ich das Grab aushob, fiel ein feiner, silberner Regen. Vorsichtig legten wir den Körper in die Grube, und ich bedeckte ihn mit Erde. Dann knieten wir nieder und falteten die Hände.
»Hahnrei Ho, groß ist Eure Freude«, sagte Meister Li. »Nun ist Eure Seele aus dem Kerker Eures Körpers befreit, und man begrüßt Euch mit großen Ehren in der Hölle. Ihr habt die Welt von einer Frau befreit, die Menschen und Göttern ein Greuel war. Ganz sicher werden die Yamakönige Euch erlauben, Leuchtender Stern wiederzusehen. Wenn die Zeit Eurer Wiedergeburt gekommen ist, wird Euer Wunsch in Erfüllung gehen, und Ihr werdet eine schöne Blume sein, die ein Tanzmädchen im Haar trägt.«
»Hahnrei Ho«, schluchzte ich unter Tränen, »ich werde Euch vermissen. Aber ich weiß, daß wir uns wieder begegnen. Meister Li wird dann ein Faultier sein, Geizhals Shen ein Baum und Ihr eine Blume. Ich werde eine Wolke sein, und eines Tages begegnen wir uns in einem schönen Garten. Vielleicht sogar sehr bald«, fügte ich hinzu. Wir sprachen die Gebete und opferten. Dann erhob sich Li Kao und streckte sich erschöpft.
»Unsterblichkeit ist nur etwas für die Götter. Ich frage mich, wie sie das ertragen können«, murmelte er nachdenklich vor sich hin. »Ochse, die letzten Worte von Hahnrei Ho können vielleicht in mehr als einer Hinsicht bedeutungsvoll sein.«
Meister Li blieb in Gedanken versunken stehen. Dann sagte er: »Wenn ich versuchen wollte, die unglaublichen Zufälle im Laufe unserer Suche an den Fingern abzuzählen, würde ich mir alle zehn verrenken. Außerdem bin ich viel zu alt, um noch an Zufälle zu glauben. Wir werden zu etwas hingeführt, und ich habe den starken Verdacht, daß Hahnrei Ho auch die Frage geliefert hat, die wir stellen müssen, ehe wir weiter suchen können. Nur der klügste Mann der Welt kann sie beantworten. Kann es ein Zufall sein,
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