Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
zwingen, uns die Große Wurzel der Macht auszuhändigen. Und es kann ihn ebenso zwingen, Jadeperle freizugeben. Ich wette um alles, was du willst, daß der Himmelskaiser es so einrichten wird, daß wir das eine nicht ohne das andere bekommen.«
Meister Li streckte sich, gähnte und kratzte sich den struppigen Bart.
»Wir wollen schlafen. Morgen früh werden wir uns auf die Suche nach dem schlechten schleimigen Herzen des Herzogs von Ch'in machen«, sagte er.
27.
Der See der Toten
Wir zogen im Morgengrauen los und erreichten am vierten Tag die Ausläufer des Gebirges. Als wir in die Berge hinaufstiegen, ließen wir den Sommer hinter uns. Die grünen Bäume, die duftenden Blumen, die plätschernden Bäche wichen der bedrückendsten Landschaft, die ich je gesehen habe.
Die Berge lagen im Bann einer eigenartigen Kälte, die merkwürdig starr und leblos wirkte, als sei ein gewaltiger Eisberg auf einen Berggipfel geschleppt worden, wo er seit tausend Jahren reglos und ohne zu schmelzen lag. Mitunter gingen wir eine Stunde, ehe wir ein Erdhörnchen sahen oder einen Vogel zwitschern hörten. Am dritten Tag des Aufstiegs waren alle Zeichen von Leben verschwunden. Wir hielten vergebens Ausschau nach einem Adler am Himmel, und auf der Erde konnten wir noch nicht einmal eine Ameise entdecken. Seit geraumer Weile hörten wir das ferne Rauschen von fallendem Wasser, und schließlich erreichten wir es. Ein dünner Wasserfall stürzte über eine scharf gezackte Felswand. Wir kletterten hinauf und entdeckten, daß dieser Felsen Teil eines gigantischen Bergsturzes war, der vor vielen Jahrhunderten den schmalen Eingang eines Tals versperrt hatte. In der Ferne sahen wir noch einen Wasserfall über eine noch höhere Felswand fallen. Das ganze Tal hatte sich in einen riesigen See verwandelt. Ich hatte noch nie ein so kaltes, graues, abweisendes Gewässer gesehen. Ich spürte das Böse in meinen Knochen. Li Kao setzte sich und begann, schnell zu rechnen. »Ochse, der See hat die richtige Größe, die richtige Form und die richtige Lage«, sagte er, »ihn haben wir vom Drachenkissen aus gesehen. Er brannte erst silbern, dann golden, und es sieht mir sehr danach aus, als müßten wir feststellen, was auf seinem Grund liegt.«
Das war schwieriger, als wir erwartet hatten. Wir bauten ein Floß und paddelten in die Mitte des Sees. Aber als wir versuchten, mit einem Stein, den wir an ein Seil aus Ranken gebunden hatten, den Grund zu erreichen, hing der Stein nach zweihundert Fuß immer noch ohne Bodenberührung im Wasser. Es sah so aus, als habe der See keinen Grund. Meister Lis Gesicht wurde feuerrot, als er wutentbrannt die Serie von Sechzig Sakrilegien ausstieß, mit der er drei Jahre hintereinander die chinesische Meisterschaft in Freistil-Blasphemie in Hangchow gewonnen hatte. Dann beschloß er, die Felswand am anderen Ende des Sees zu ersteigen, um das Problem aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Es war eine schwierige und sehr gefährliche Klettertour. Wir stiegen meist über bröckligen Schieferton. Als wir die Spitze erreichten, stellten wir fest, daß der Boden weich und porös war. Nur das Wasser lief in einer harten Felsenrinne. Meister Li kroch vorsichtig bis zum Abgrund und blickte beinahe fünfhundert Fuß hinunter auf den goldgrauen See, der stumpf in der Sonne glänzte. »Es ist nur eine Sache einfacher Hydraulik!« rief er, »wir können den Grund des Sees nicht erreichen, also bringen wir ihn zu uns herauf. Als erstes brauchen wir jede Menge starker Muskeln.« Wir mußten weit auf der anderen Seite des Berges hinabsteigen, ehe wir ein Dorf erreichten. Die Dorfbewohner wollten nichts von einer Arbeit wissen, die verlangte, daß sie sich in die Nähe des Sees begaben. Sie nannten ihn den See der Toten und schworen, daß nicht einmal Fische in seinem Wasser leben konnten. »Einmal im Jahr, am fünften Tag des fünften Monats nähert sich um Mitternacht eine gespenstische Karawane dem See der Toten«, erzählte eine alte Frau leise unter Zittern und Beben, »zur Zeit meiner Großmutter legten sich einmal ein paar törichte Männer dort auf die Lauer, um die Prozession des Bösen zu beobachten. Man fand sie später mit aufgeschlitzten Bäuchen! Seit dieser Zeit verschließen wir am fünften Tag des fünften Monats in unserem Dorf alle Türen und verkriechen uns unter den Betten.«
Meister Li warf mir einen Blick zu, und ich wußte, was er dachte. Um diese Zeit mußte der Herzog von Ch'in seine Rundreise
Weitere Kostenlose Bücher