Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
weiter, dann tauchte Meister Li auf, kletterte an Bord, wir ruhten uns aus und erneuerten unsere Luftvorräte. Langsam näherten wir uns der Mitte der Stadt, und am späten Nachmittag ruderten wir das Floß zu einer kupfernen Kuppel, die sich zwischen vier Steintürmen aus dem Wasser erhob. Beim Einsturz der Steilwand hatte ein Felsbrocken die Kuppel durchschlagen, und die winzigen Luftbläschen perlten aus der Öffnung. Wir zwängten uns durch das Loch und sanken auf einen Berg von Schätzen, der zehnmal größer war als alle anderen zusammen! Über dieser Beute des Herzogs hing an einer Steinmauer seine riesige Tigermaske. Das Maul des Tigers war aufgerissen, und in einer Nische hinter den Zähnen lagen die kostbarsten aller Edelsteine. Ich schwamm näher und sah, daß die Steine sich um ein goldenes Kästchen häuften, und mein Herz pochte freudig, als ich bemerkte, daß die Bläschen aus dem Schlüsselloch perlten. Ich streckte die Hand aus, aber Li Kao hielt sie fest. Er wies mit dem Kopf eindringlich auf die Maske. Ich bemerkte die spitzen Stahlzähne im Maul des Tigers, schwamm zu einem der Türme, und es gelang mir, einen Mauerstein loszureißen. Damit schwamm ich zurück und schob ihn zwischen die furchteinflößenden Fänge.
Die Zähne schnappten zu und bohrten sich mit einem Knirschen durch den Stein, das vom Wasser noch verstärkt zu werden schien. Doch der Quader hielt gerade lange genug, daß ich in die Lücke greifen und das Kästchen herausholen konnte. Ich ließ es in den Sack fallen, den ich an meine Hüfte gebunden hatte, als der Stein auseinanderbrach, und das Maul sich mit einem schrecklichen Dröhnen schloß. Wir kehrten um und wollten an die Oberfläche zurückschwimmen. Aber mir blieb beinahe das Herz stehen. In dem grünlichen Glühen trieben drei weiße Gestalten auf uns zu. Wenn nicht der Luftschlauch in meinem Mund gewesen wäre, hätte ich vor Mitleid aufgeschrien. Es waren die drei ermordeten Zofen der Prinzessin der Vögel. Ihre Körper waren nach all den Jahrhunderten unversehrt. In das Entsetzen in ihren Augen mischte sich ein seltsames, hilfloses Flehen. Sie glitten mit fast unmerklichen Bewegungen der Hüfte und der Beine durch das Wasser, und ihre langen schwarzen Haare trieben wie Wolken hinter ihnen.
Die Haare widerstanden dem Druck des Wassers. Plötzlich trieben sie vor den Mädchen her und glitten auf uns zu wie unzählige Schlangen. Die kalten, nassen Strähnen legten sich um unsere Luftschläuche, rissen sie uns aus dem Mund, dann überzogen sie unsere Gesichter wie Ranken und verstopften uns Mund und Nase. Wir tauchten wie Schildkröten, zerrten an der zweiten Schweinsblase und schoben uns die Atemschläuche in den Mund. Dann schnellten wir herum, schwammen wieder nach oben zurück und stießen mit den Bambusspeeren nach den Mädchen. Das war reine Zeitverschwendung. Die schlaffen Körper lebten seit Jahrhunderten nicht mehr. Die Speere glitten durch die Haarwolken hindurch, die wieder nach uns griffen. Wieder wurden uns die Atemschläuche aus dem Mund gerissen, und die Luft perlte aus der zweiten Schweinsblase. Wir tauchten noch einmal, schoben den Atemschlauch der letzten Blase in den Mund. Noch während ich damit beschäftigt war, spürte ich, wie sich schwere, nasse Haarsträhnen über meine Schultern ringelten. Die letzten Atemschläuche wurden uns abgerissen. Ich versuchte verzweifelt die Zofen abzuwehren, und sah, daß in ihren flehenden Augen offenbar Tränen standen. Aber ihre Haare bildeten eine undurchdringliche Wolke über uns. Wir konnten nicht weiter.
Ich packte Meister Li, schwamm zu dem Turm und löste mit meinem Speer einen zweiten Steinquader. Das Loch war gerade groß genug. Ich schob Meister Li hindurch, zwängte mich nach ihm hinein und drückte meinen Speer in das Loch, um die Zofen aufzuhalten. Wir rissen uns die Steine von den Gürteln und begannen, aufzusteigen. Meine Lunge drohte zu platzen und das Trommelfell zu explodieren, und meine Augen brannten wie Feuer. Ich war beinahe bewußtlos, als unsere Köpfe schließlich in einer Luftblase direkt unter dem Kupferdach aus dem Wasser tauchten. Ich hielt Li Kaos Kopf über Wasser, während ich japsend die Luft einsog; gequält schrie ich auf, als die Luft in meine Lunge drang. Schließlich konnte ich normal genug atmen, um wieder denken zu können. Ich sah, daß die Mauer auf der linken Seite sehr brüchig schien. Nach ein paar Tritten gähnte ein Loch. Ich trug Li Kao hindurch und kletterte auf ein
Weitere Kostenlose Bücher