Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
beendet haben und sich wieder auf den Rückweg machen. Er kam dabei wahrscheinlich auch zu dem kalten Berg und dem See der Toten. Es war nicht leicht, sie zu überreden. Aber wir konnten ihnen mehr Geld bieten, als sie hoffen konnten, in tausend Jahren zu verdienen. Schließlich nahmen die Männer ihre Hacken und Schaufeln und folgten uns ängstlich zu der Felswand. Sie arbeiteten wie die Teufel, um so schnell wie möglich wieder dort wegzukommen. Als erstes hoben wir einen Graben aus, der vom Ufer des Gebirgsbachs zu einer tiefen Schlucht führte. Dann zogen wir Gräben zu anderen Erdspalten. Schließlich hatten wir einen Kanal, der von einem Ende der Felswand bis zum anderen reichte. Wir fällten Bäume und errichteten einen Damm. Es war nicht so leicht, das Wasser zu überreden, sein Bett zu wechseln. Aber schließlich rauschte es ärgerlich aus seiner Felsrinne und verschwand fauchend und zischend in der porösen Erde auf dem Grund der Erdspalten. Wir gaben den Männern noch eine Belohnung. Doch sie nahmen sich kaum Zeit, uns zu danken, während sie Hals über Kopf davonstürzten.
Meister Li und ich schlugen auf der anderen Seite des Sees ein Zelt auf. Wir wußten nicht, wie lange es dauern würde, und vertrieben uns die Wartezeit damit, daß wir Taucherausrüstungen herstellten: Luftbehälter aus den Blasen von Wildschweinen und Atemschläuche aus den Därmen. Wir fertigten Bambusspeere und befestigten Schlingen an unseren Gürteln, um die Felsbrocken zu halten, die uns beim Herabsinken beschweren sollten. Es geschah sehr viel schneller, als wir das für möglich gehalten hätten.
Ich blickte über den kalten, glatten See zum Steilhang, der im Mondlicht glänzte, und Li Kao schrieb im Schein einer Laterne Lieder. Plötzlich schwankte die Laterne auf dem Tisch. Verblüfft sahen wir zu, wie sie über den Tisch rutschte und auf den Boden fiel. Dann bäumte die Erde sich unter uns wie ein junges, wildes Pferd. Wir rannten aus dem Zelt und blickten zur Felswand hinüber, hörten ein Grollen und Knirschen, und die Steilwand begann, sich im Mondlicht zu bewegen. Selbst Meister Li hatte nicht mit etwas so Spektakulärem gerechnet. Aber das Wasser hatte sich tiefe Tunnel in die poröse Steilwand gegraben, so daß beinahe die Hälfte des Berges sich neigte, in der Luft hing und dann fünfhundert Fuß hinunter in den See der Toten stürzte.
Wir rannten zum nächsten Baum und klammerten uns daran fest. Ich sah, wie eine gewaltige Wasserfontäne, die silbern im Mondlicht glänzte, sich wie eine Wolke in die Luft erhob. Die riesige Woge schien sich sehr langsam dem Damm zu nähern. Wir spürten einen eisigen Windstoß, dann schoß die Welle über den Damm und donnerte in das tiefer liegende Tal. Wir sahen, daß ein Wald im Handumdrehen zermalmt wurde. Wir sahen, daß gewaltige Felsen wie Sandkörner durch die Luft geschleudert wurden. Der Berg unter uns erzitterte, und tief im Innern der Erde preßte sich das Gestein mahlend und kreischend zusammen. Ein eisiger Nebel hüllte uns ein. Der Baum, an den wir uns klammerten, schien schwankend und zuckend aus der Erde gerissen zu werden. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis die Erde sich beruhigte und das Dröhnen des Wassers verhallte.
Allmählich löste sich der Nebel auf, und uns bot sich ein unglaublicher Anblick. Aus dem flachen, zurückgebliebenen Wasser ragte ein Wald von Kuppeln und Türmen auf. Es dauerte einige Zeit, bis mein Verstand erfaßte, daß der See der Toten eine ganze Stadt unter sich begraben hatte! Li Kao jubelte vor Freude, packte mich und tanzte mit mir im Kreis herum.
»Welch ein hübscher Platz, um ein Herz zu verstecken!« schrie er, »wirklich hübsch!«
Ich tanzte mit Meister Li, konnte ihm jedoch nicht zustimmen, daß es ein hübscher Platz war. Die geisterhaften Türme ragten aus dem Wasser auf und schienen sich an dem Mond festkrallen zu wollen wie die Finger ertrinkender Männer. Von den Kuppeln tropfte das Wasser wie Tränen.
Die Nacht ging vorüber. Die strahlende Morgensonne, die auf unser kleines Floß schien, wärmte uns. Aber nichts konnte das Wasser im See der Toten erwärmen. Ich überprüfte meine Schweinsblasen und die Luftschläuche, die Steine an meinem Gürtel und den Speer.
»Fertig?« fragte Meister Li. »Fertig«, erwiderte ich.
Ich schob mir den Atemschlauch der ersten Blase in den Mund, hielt mir die Nase zu und sprang. Das Wasser war sehr kalt. Doch ich hatte meinen Körper mit einer dicken Schicht Schweinefett
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