Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Schatz des Herzogs gefunden hatten. Dann sicherte ich mich mit einem Haken und einem Seil, kletterte durch den Kamin in das Labyrinth hinunter. Li Kao zündete eine Fackel an und sah sich nachdenklich um.
»Wie schade, daß wir den Drachenanhänger nicht mehr haben«, murmelte er, »wenn ich das unfehlbare Gedächtnis von Hahnrei Ho einmal gebrauchen könnte, dann jetzt.«
Meister Lis Gedankengänge waren mir so unverständlich wie die geheimsten Gedanken Buddhas. Er zögerte kein einziges Mal, obwohl er jede Abzweigung und Biegung wiederfinden mußte - und dazu noch rückwärts. Ich folgte ihm auf den Fersen und lauschte unruhig auf das erste metallische Gebrüll des Tigers. Der Herzog war seit seiner Rückkehr nicht untätig gewesen. Die Luft stank nach Blut und verwesendem Fleisch. Und von den Spalten und Rissen in der Decke starrten neue Leichen blicklos auf uns hinunter. Ich starrte voll Entsetzen auf dunkle Streifen, die über den Boden glitten, und weit entfernt aus der Schwärze hinter uns drang das Gebrüll eines Tigers.
Li Kao brummte zufrieden und lief durch einen gemauerten Bogen in die Höhle, in der sich unter einer Falltür hoch oben ein runder Teich befand. Ich band ein Seil an einen Felsvorsprung auf der einen Seite und ein zweites Seil an einen Felsvorsprung an der anderen Seite fest, sicherte beide Enden, indem ich sie mit einem Laufknoten um die Hüfte band. Den Knoten konnte ich mit einem Zug öffnen, dann blickte ich ängstlich in die Dunkelheit, wo eine Falltür sein sollte. Wenn sie sich von dieser Seite nicht öffnen ließ, würden wir wie die anderen Glücklichen in einer der Felsspalten landen. Das Wasser strömte immer schneller herein und stieg mir bis zu den Oberschenkeln. Es trug mich nach oben. Meister Li saß auf meinem Rücken, und ich strampelte. Ich hörte den Tiger brüllen, und dann traf uns die Flut mit voller Gewalt. Wir wurden hin- und hergestoßen, doch die Seile hielten, und wir stiegen weiter gerade nach oben. Meister Li richtete sich, so hoch er konnte, auf meinen Schultern auf und griff nach oben. Ich hörte, wie er sich stöhnend abmühte. Dann ertönte ein metallisches Quietschen, als ein Riegel zurückglitt. Meister Li duckte sich, und die Falltür verfehlte um Fingerbreite seinen Kopf. Ich zog den Knoten auf, ließ die Seile sinken und kletterte durch die Öffnung in den Thronsaal des Herzogs von Ch'in. Durch eine beiläufige Bemerkung des Schlüsselhasen wußten wir noch von unserem ersten Besuch, daß der Thronsaal nach Sonnenuntergang verschlossen wurde, und niemand außer dem Herzog ihn betreten durfte. Li Kaos Fackel flackerte blaß in der Dunkelheit. Ich hörte das Klirren von Waffen und die schweren Tritte von Soldaten, die vor dem goldenen Tor Wache hielten. Der Sturm legte sich so schnell wie er aufgezogen war. Der Wind riß die Wolken vor dem aufgehenden Mond wie Vorhänge auseinander, und Licht fiel durch die Fenster. Ich blieb wie angewurzelt stehen und hielt entsetzt die Luft an.
Der Herzog von Ch'in saß auf seinem Thron. Die schreckliche Tigermaske starrte uns an.
Li Kao ging ungerührt weiter. »Keine Sorge, Ochse, das ist nur eine leere Hülle«, versicherte er mir. Als ich mich zwang, weiterzugehen, erkannte ich, daß er recht hatte. Mondstrahlen streckten sich wie blasse goldene Finger aus, griffen durch die Augenhöhlen der Tigermaske und berührten die Rückenlehne des Throns. Es war wirklich nur eine Maske, die zusammen mit einem langen Federumhang über einem leichten Metallgestell hing. »Ochse, wir müssen ein Versprechen einlösen, ehe wir uns Gedanken über Ginsengwurzeln machen können«, sagte Meister Li, »das heißt, wir haben nur ein paar Stunden, um die Federn vom König der Vögel, die goldene Krone und die Prinzessin der Vögel zu finden. Außerdem benötigen wir den Schlüssel zu einem Kästchen. Also fangen wir an. Bei deinem ersten Schlag damals ist das Beil einfach vom Herzog abgeprallt. Weißt du noch, wo du ihn getroffen hast?«
Ich wies auf drei winzige weiße Federn in dem Federumhang. »Federn, an denen ein Beil abprallt?« flüsterte ich, »Meister Li, sind das die Federn vom König der Vögel?«
»Das werden wir bald wissen«, sagte er, »versuch sie herauszuziehen.«
Die Federn ließen sich nicht herausziehen, sie ließen sich nicht abschneiden, und Li Kaos Fackel konnte sie nicht einmal versengen. Er klappte ein paar Muscheln an seinem Schmugglergürtel auf und gab mir drei kleine Gegenstände. Ich legte die
Weitere Kostenlose Bücher