Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Tapferkeit mich noch jemals sonderlich beeindrucken wird, denn ich hatte das Privileg, Zeuge einer Tapferkeit zu werden, die jedes menschliche Vorstellungsvermögen überstieg. Die Türme der tragisch versunkenen Stadt warfen das Echo von Li Kaos Worten zurück, und es herrschte Schweigen. Dann begannen sich die Körper der ermordeten Mädchen im Wasser zu drehen. Zuerst glaubte ich, sie hätten die Herrschaft über sich verloren, aber dann begriff ich, daß sie sich drehten, um sich in ihre Haare einzuwickeln. Eine qualvolle Schmerzenswoge überflutete mich und warf mich beinahe ins Wasser. Zwar konnte ich die Schreie der Zofen in meinen Ohren nicht hören, aber ich hörte sie in meinem Herzen. Meister Li hüpfte auf meinen Rücken, ich sprang ins Wasser und schwamm auf das ferne Ufer zu. Eine seelenerschütternde Qual umgab die sich drehenden Mädchen. Aufschrei um Aufschrei schnitt mir ins Herz, und unter dem Zucken ihrer Körper brodelte das Wasser. Ich schwamm so dicht an der einen vorbei, daß ich ihre Tränen erkennen konnte und sah, daß sie sich in ihrer unendlichen Pein so verzehrte und krümmte, daß ihr Rückgrat zu brechen schien. Ich schwamm weiter, und die drei Mädchen blieben hinter mir zurück. Sie gaben den schrecklichen Kampf erst auf, als ich sicher an das sandige Ufer geklettert war.
Wir drehten uns nach den drei Zofen um und berührten mit den Köpfen die Erde. Aber Li Kao hatte nicht die Zeit für die angemessenen Ehrenbezeigungen.
»Ochse, uns bindet ein heiliger Schwur, und es ist Zeit herauszufinden, welche Anstrengungen deine Muskeln aushalten«, sagte er düster. »Um das Schloß des Labyrinths zu erreichen, müssen wir halb China durchqueren. Aber wir müssen am siebten Tag des siebten Mondes dort sein. Wirst du das schaffen?«
»Meister Li, setzt Euch auf meinen Rücken« erwiderte ich. Er hüpfte hinauf, ich drehte mich in Richtung Süden und rannte.
Am späten Nachmittag des siebten Tages des siebten Monats standen wir an einem Sandstrand und blickten über das Wasser auf eine hoch aufragende Felswand, auf der sich drohend das Schloß des Labyrinths als dunkle, riesige Mauer abzeichnete. Die Sonne fiel durch schwarze Wolken und verwandelte das Gelbe Meer in geschmolzenes Gold. Ein heftiger Wind peitschte das Wasser in der Bucht zu kleinen, kurzen Wellen auf. Möwen schwebten wie Schneeflocken an einem Himmel, der Regen verhieß. Ich konnte mit Meister Li unmöglich durch diese Wellen schwimmen, ohne einen von uns oder beide umzubringen. Ich sah ihn verzweifelt an.
»Ich glaube, da kommt Hilfe«, erklärte ich ruhig und wies auf eine kleine Schar Boote, die sich uns mit großer Geschwindigkeit näherten.
An der Spitze lag ein kleines Fischerboot mit einem leuchtend roten Segel, das mit Speeren und Pfeilen bombardiert wurde. Der Wind trieb abgehackte zornige Schreie an unser Ohr: »Meine Geldbörse!... Mein Jadegürtel!... der Sparstrumpf meiner Großmutter!... Pulverisierter Fledermausdreck kann keine Arthritis heilen!... Meine goldenen Ohrringe!... Nicht einmal eine Erbse war in diesen Muscheln!... Gebt mir meine falschen Zähne wieder zurück!« Das kleine Boot landete praktisch vor unseren Füßen am Ufer. Zwei zwielichtige Herren kletterten heraus und drohten ihren Verfolgern mit den Fäusten.
»Wie könnt ihr wagen, uns Betrüger zu nennen?« kreischte Pfandleiher Fang.
»Wir gehen vor Gericht!« schimpfte Ma die Made. Die aufgebrachte Menge stürmte schreiend ans Ufer, und Ma und Fang gaben Fersengeld. Wir stiegen in das kleine Fischerboot, stießen ab, und schon drehte sich gehorsam der Wind und blähte das Segel. Während wir über die Wogen schossen, verschwand die Sonne. Es wurde dunkel, Blitze zuckten über den Himmel, und es begann zu regnen. Vor uns ragte die steile Felswand drohend auf. Ich steuerte zwischen die gezackten Klippen und fand einen Platz, wo wir anlegen konnten.
Der Wind umtoste uns heulend, und der Regen fiel so dicht, daß ich kaum etwas sah, als ich ein Seil über dem Kopf kreisen ließ und einen Enterhaken hoch hinauf in die Steilwand warf. Beim dritten Versuch traf ich einen Felsen, in dem sich der Haken sicher verfing. Meister Li hüpfte auf meinen Rücken, und ich begann hinaufzuklettern. Die senkrechte Wand war glatt und schlüpfrig vor Nässe. Doch wir mußten das Risiko eingehen, wenn wir das Labyrinth erreichen wollten, ehe die Flut einsetzte.
Wir schafften es. Ich kletterte über den Felsvorsprung in die kleine Höhle, wo wir den ersten
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