Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
winzige Flöte mit zitternden Fingern auf die Armlehne des Throns und streckte die Hand nach dem Umhang aus.
»Schneegans gibt die Flöte im Tausch gegen die Feder zurück«, flüsterte ich, und die erste Feder glitt so leicht vom Umhang wie ein Strohhalm durch warme Butter. Ich legte die Kristallkugel auf die Armlehne des Throns.
»Kleine Ping gibt die Kugel im Tausch gegen die Feder zurück«, flüsterte ich.
Die zweite Feder löste sich ebenso leicht wie die erste. Ich legte das Bronzeglöckchen auf die Thronlehne.
»Herbstmond gibt das Glöckchen im Tausch gegen die Feder zurück«, flüsterte ich, und die dritte Feder sprang mir praktisch in die Hand.
Li Kao steckte die Federn in seinen Schmugglergürtel.
»Das übrige wird nicht so leicht sein«, erklärte er grimmig, »wir brauchen Hilfe. Gehen wir und suchen sie.«
Wir warteten, bis die Flut zurückwich. Dann sprangen wir in den Teich hinunter, und Li Kao führte uns wieder durch das Labyrinth. Das Seil und der Haken hatten gehalten, und ich zog uns durch den Kamin hinauf in die Höhle. Dann ließen wir uns mit Seilen und Haken an der Felswand zum Meer hinab, das sich soweit beruhigt hatte, daß ich über die Bucht zur Stadt schwimmen konnte. Die größte Vergnügungsstadt der Welt erwachte zum Leben. Lachen und Flüche, das fröhliche Anstoßen von Weinkrügen begleiteten uns auf unserem Weg durch die Straßen. Betrunkene Zecher torkelten in Scharen um uns herum. Wir schoben sie beiseite und eilten weiter. Wir kletterten über eine Mauer in einen kleinen Garten. Die Wachhunde kannten uns gut, und nachdem wir sie gestreichelt hatten, erhoben sie keine Einwände, als wir durch ein Fenster in das Haus kletterten. Manchmal findet man an den merkwürdigsten Orten Hilfe - etwa in einem kleinen, bescheidenen Haus, wo ein bescheidener kleiner Mann mit seiner geradezu großartigen gierigen Frau einen der seltenen ruhigen Abende verbrachte. »Bu-Fi!« jubelte Lotuswolke glücklich.
»Geister!« schrie der Schlüsselhase und verschwand unter dem Bett.
29.
Der Blick durch ein halb geschlossenes Auge
Wir benötigten einige Zeit, den Schlüsselhasen davon zu überzeugen, daß wir die schreckliche Pest der Zehntausend Ansteckenden Fäulnisse tatsächlich überlebt hatten. Nachdem es uns gelungen war, ihn unter dem Bett hervorzulocken, bildeten wir eine glückliche kleine Familie. Er ging sogar soweit, ein paar Krüge Wein aus seinem ärmlichen Keller zu holen. Wir saßen zusammen um den Tisch, nippten Wein und knabberten Nüsse. Nachdem die lange Nase des Kleinen nicht mehr angstvoll zuckte, sagte Li Kao so sanft wie möglich.
»Lotuswolke, wollt Ihr Euren Mann auffangen, damit er sich nicht verletzt? Seht Ihr, Ochse und ich haben nämlich beschlossen, den Herzog von Ch'in zu ermorden.«
Lotuswolke konnte den Schlüsselhasen im letzten Augenblick hochreißen, ehe sein Kopf auf dem Boden aufschlug. Nach mehrfacher Anwendung von Riechsalz, konnte er einen Schluck Wein trinken, und die Farbe kehrte wieder in sein Gesicht zurück. »Ihr werdet uns dabei helfen«, erklärte Meister Li. Lotuswolke griff geistesgegenwärtig zu, und ich holte schnellstens noch mehr Riechsalz.
»Geht es Euch besser?« fragte Meister Li mitfühlend, als der Schlüsselhase wieder etwas Farbe im Gesicht hatte. »Vielleicht sollte ich damit anfangen, daß ich erkläre, weshalb der Herzog verdient, ermordet zu werden. Es beginnt mit einer bezaubernden Geschichte, die Lotuswolke bestimmt gut gefallen wird, denn sie handelt vom hübschesten Gott des Himmels und dem schönsten Mädchen der Welt.«
»Und ihrer bösen Stiefmutter«, sagte Lotuswolke mit leuchtenden Augen.
»Seltsamerweise kommt die böse Stiefmutter nicht vor. Ich kann mir eigentlich gar nicht denken, warum nicht«, sagte Meister Li nachdenklich.
»Gott sei Dank!« rief der Schlüsselhase, »böse Stiefmütter machen mir Angst. Eigentlich die meisten Dinge, wenn ich es mir so recht überlege«, fügte er traurig hinzu.
Li Kao übernahm die Rolle des Gastgebers und füllte die Weinbecher nach. Dann wiederholte er beinahe Wort für Wort Hahnrei Hos Erzählung, als er die Geschichte vom Sternenhirten und der Prinzessin der Vögel erzählte. Niemand hätte sich eine bessere Zuhörerin wünschen können als Lotuswolke, die ganz aufgeregt auf und ab hüpfte, als der Jadekaiser Prinzessin Jadeperle die Krone aufs Haupt setzte. Sie vergoß Freudentränen, als die Prinzessin über die schöne Brücke der Vögel in die Arme
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