Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
er schwach, als er sich wieder erholt hatte, »um eines bitte ich Euch, zwingt mich nicht, das Gesicht hinter der Maske zu sehen, denn es muß das schrecklichste Gesicht der Welt sein!«
»Vielleicht... vielleicht auch nicht, denn wir reden von einem sehr ungewöhnlichen Mann«, erwiderte Meister Li nachdenklich, »er hat alle Bücher Chinas verbrannt und Millionen hingeschlachtet, um alle Spuren der Prinzessin auszulöschen. Aber warum hat er sich diese Mühe gemacht? Sie stand bereits nicht mehr unter dem Schutz des Himmels, und so starben Millionen Menschen völlig grundlos. Er baute ein Schloß mit sechsunddreißig Schlafzimmern, um Meuchelmörder zu verwirren. Aber Meuchelmörder konnten ihm nichts tun, denn er war unverletzlich. Er lebt nur für Geld, aber hütet er seine Schätze hinter eisernen Toren und läßt sie von Armeen bewachen? Nein! Er schützt sie in Labyrinthen und mit Ungeheuern, die einem Kinderbuch entstiegen sein könnten. Obwohl die Ungeheuer Angst und Schrecken verbreiten, so sind sie doch nicht sehr wirkungsvoll.
Großer Buddha, jeder dumme Feldwebel könnte sich bessere Verteidigungsmöglichkeiten ausdenken!«
»Glaubt Ihr, er ist verrückt?« flüsterte Lotuswolke. »O, nein, keineswegs!« antwortete Meister Li, »dieser Bursche hat es so eingerichtet, daß jeder, der ihm nach dem Leben trachtet, sich in der Landschaft seiner mörderischen Märchen verirren muß. Und das ergibt keinen Sinn, wenn man ihn sich als einen großen und mächtigen Herrscher vorstellt, doch es ergibt sehr wohl einen Sinn, wenn man sich ihn als das vorstellt, was er einmal war: ein feiger kleiner Junge, der nachts wach im Bett liegt und voll Entsetzen auf jedes Geräusch lauscht und in jedem Schatten Ungeheuer sieht. Er wurde älter; aber man kann kaum behaupten, daß er erwachsen wurde, denn der Gedanke an den Tod jagte ihm solches Entsetzen ein, daß er bereit war, jedes Verbrechen zu begehen. Er war selbst bereit, sein Herz zu verlieren, wenn ihm dadurch erspart blieb, auf das Große Rad der Wandlungen zurückzukehren. Es gibt noch etwas an dem Herzog von Ch'in, und das ist vielleicht das Seltsamste von allem.« Li Kao griff an seinen Gürtel und holte die Edelsteine hervor, die ich zusammen mit dem Kästchen aus dem Tigerrachen herausgeholt hatte: einen Diamanten, einen Rubin, eine Perle und einen Smaragd. Er legte sie auf den Tisch.
»Seht Euch das an, Schlüsselhase«, sagte er, »wir haben von einem kleinen Jungen gesprochen, der nur für Geld lebt. Und doch beschäftigt er Euch als Steuereinnehmer von Ch'in. Ihr seid gezwungen, Geldbußen zu verordnen, seinen Anteil an jedem Geschäft einzutreiben, ihn auf seiner Rundreise zu begleiten und festzulegen, was jedes Dorf ihm schuldet. Er zwingt Euch, Nacht für Nacht in seinen Schatzkammern zu sitzen und den Tribut bis auf die kleinste Münze zu zählen. Der geheimnisvolle Herzog von Ch'in, der nur für Geld lebt, hat es so eingerichtet, daß sein Steuereinnehmer weit mehr Zeit bei den Schätzen verbringt als er selbst. Merkwürdig, nicht wahr?«
»Lotuswolke hat recht. Er ist verrückt«, sagte ich entschieden. »Leider nein«, erwiderte Meister Li, »seht Ihr, alles würde sehr gut zusammenpassen... das Geld, die Ungeheuer, die Labyrinthe, das andere Drumherum aus den Märchen, das Fehlen vernünftiger Vorsichtsmaßnahmen und die lächerlichen Vorsichtsmaßnahmen, dort, wo keine nötig sind... wenn sich hinter der Maske das richtige Gesicht verbergen würde. Angenommen, hinter einem schrecklich brüllenden Tiger verbirgt sich...«
Meister Li beugte sich vor. Seine Stimme klang hypnotisch, und seine Augen waren so kalt wie die einer Kobra. »... das Gesicht eines Angsthasen«, flüsterte er. Li Kao hatte mir mit den Augen bedeutet zu springen, und ich mußte nur noch wissen, wohin. Ich warf den Schlüsselhasen auf den Boden. Li Kaos Hände schossen vor, griffen nach einer Kette und zerrten einen Schlüssel über den Kopf des Schlüsselhasen. Wir verhedderten uns augenblicklich in dieser Kette, an deren Ende ein Schlüssel hing, der wie eine Blüte mit sechzehn winzigen Staubgefäßen geformt war. Li Kao zog ein goldenes Kästchen unter seinem Gewand hervor - ein Kästchen, in dem das Herz des Herzogs von Ch'in lag, und das durch ein Druckschloß in Form einer Blüte mit sechzehn winzigen Löchern gesichert war. Jedes Staubgefäß mußte mit genau dem richtigen Druck in jedes Loch gepreßt werden. Li Kao legte angestrengt die Stirn in Falten, als er den
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