Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
des Sternenhirten lief. Man mußte kein Hellseher sein, um festzustellen, daß Lotuswolke davon träumte, das schönste Mädchen der Welt zu sein und eine Göttin zu werden, die zu den Sternen emporsteigen durfte.
»Und sie lebten...«, Meister Li füllte sich den Becher wieder mit Wein, »nein, leider muß ich sagen, daß sie fortan nicht glücklich miteinander lebten. Es gab nämlich einen Bösewicht, der ewig leben wollte. Er hatte erfahren, daß er nur etwas zu stehlen brauchte, das einem Gott oder einer Göttin gehörte, um nicht mehr zu altern, solange er es besaß. Er hatte auch erfahren, daß er unverletzbar sein würde, wenn der weiseste Mann der Welt, der Alte vom Berg, ihm das Herz aus dem Leib nahm. Also stellte er der unschuldigsten und leichtgläubigsten Gottheit, die er finden konnte, nämlich Jadeperle, der Prinzessin der Vögel, eine Falle.«
»O nein!« rief Lotuswolke. »O doch«, sagte Meister Li.
»Sie hatte drei Zofen, die ebenso unschuldig waren wie sie«, erzählte Meister Li weiter, »der Bösewicht kaufte beim Alten vom Berge drei wunderschöne Spielzeuge und drei Federn, die genauso aussahen wie die Federn vom König der Vögel. Dann verkleidete er sich als lahmer Hausierer und machte sich an die Zofen heran und erzählte ihnen irgendeine Geschichte... er gestand, er bewundere die Prinzessin und würde alles geben, um etwas zu besitzen, das sie berührt hatte... er bot den Zofen an, ihnen die wunderbaren Spielzeuge zu schenken, wenn sie ihm einen kleinen Gefallen tun würden, nämlich die Federn in seiner Hand gegen die Federn an Jadeperies Krone auszutauschen und sie ihm zu bringen.«
»So etwas würden die Zofen doch niemals tun!« rief Lotuswolke aufgebracht.
»Wußten die Mädchen, daß die Federn an der Krone so unglaublich wichtig waren?« überlegte Schlüsselhase.
»Schlüsselhase hat den Nagel auf den Kopf getroffen«, lobte Meister Li, »die Zofen wußten nicht, daß die Federn vom König der Vögel stammten, und man darf nicht vergessen, daß sich das alles vor tausend Jahren ereignete. Damals benutzte man Federn für allen möglichen Kopfschmuck... auch für Kronen. Weshalb sollte es ein schlimmes Verbrechen sein, einen alten Schmuck durch einen neuen zu ersetzen? Außerdem waren die Spielsachen wirklich unwiderstehlich. Aber in einem Punkt ließen die Zofen nicht mit sich reden: Der Hausierer mußte einen bindenden Eid schwören, die Federn wiederzubringen und dafür die Spielsachen zurückzunehmen, falls die Prinzessin aus irgendeinem Grund es verlangte. Natürlich ging der Hausierer kein Risiko ein, daß es soweit kommen konnte. Eine nach der anderen kehrten sie mit den Federn zurück; einer nach der anderen gab er ein Spielzeug, und einer nach der anderen stach er ins Herz.«
Lotuswolke begann zu weinen. »Die armen Mädchen«, schluchzte sie, »die armen treulosen Zofen.«
»Und die arme Prinzessin der Vögel«, sagte Meister Li, »ich könnte mir vorstellen, daß der Bösewicht sein Verbrechen am siebten Tag des siebten Mondes beging, damit der Himmel nicht vorher gewarnt war. Jadeperle war befohlen worden, zu ihrem Gemahl zurückzukehren. Also rief sie die Vögel Chinas, doch die Vögel konnten sie nicht mehr hören, weil sie die Federn nicht mehr in der Krone trug. Arme kleine Prinzessin. Sie rief Vögel, die nicht kamen, sah sich hilflos um, blickte auf zum Großen Fluß der Sterne, wo ihr Gemahl wartete... und vergebens wartete, weil der siebte Tag des siebten Monats gekommen und gegangen war. Ein Schwur war geleistet worden, ein Schwur war gebrochen worden, und die Prinzessin der Vögel stand nicht mehr unter dem Schutz des Himmels. Damit war es für einen Bösewicht im Gewand eines Hausierers ein leichtes, einem einfachen Bauernmädchen die Krone zu stehlen.» »Tragödien machen mir Angst!« jammerte der Schlüsselhase. »Ich fürchte, es kommt noch schlimmer«, seufzte Meister Li, »der Bösewicht kehrte zum Alten vom Berg zurück, der ihm das Herz herausnahm. Jetzt war er unverletzbar, und solange er die Krone besaß, würde er nicht altern. Im Lauf der Jahrhunderte kaufte er beim Alten vom Berge viele Geheimnisse, und seine Macht wuchs. Und Ihr, mein lieber Schlüsselhase, kennt ihn besser als jeder von uns, denn er wurde der Herzog von Ch'in und sitzt seitdem hinter einer goldenen Maske verborgen auf dem Thron.« Ich fing den Schlüsselhasen mitten in der Luft auf, und Lotuswolke schwenkte das Riechsalz.
»Seit Jahrhunderten derselbe Herzog!« stöhnte
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