Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
des Legalismus heißt: »Strafe schafft Macht, Macht schafft Stärke, Stärke schafft Ehrfurcht, Ehrfurcht schafft Tugend - also hat Tugend ihren Ursprung in Strafe«, und deshalb besteht kaum die Notwendigkeit, den zweiten Satz dieses Buches zu lesen. Der Herzog begann seine Reformen damit, daß er jedes Buch im Reich verbrannte - ausgenommen bestimmte technische Werke und Orakelbücher; und da die Gelehrten zusammen mit den Büchern verbrannt wurden, verschwanden unersetzliche Wissensbereiche vom Antlitz der Erde. Der Herzog lehnte bestimmte Religionen ab, also gingen Tempel, Priester und Gläubige in Flammen auf. Er lehnte frivole Geschichten ab, also ließ er die professionellen Geschichtenerzähler zusammen mit zahllosen fassungslosen Großmüttern köpfen. Die führenden Konfuzianer wurden in eine Schlucht gelockt, und man begrub sie unter einer Steinlawine. Die Strafe für den Besitz einer Zeile Analekten war langsame Zerstückelung bei lebendigem Leibe. Das Problem mit dem Verbrennen, Köpfen und Zerstückeln lag darin, daß es viel Zeit kostete. Der Herzog löste es mit einem Geniestreich.
»Ich werde eine Mauer bauen!« rief der Herzog von Ch'in. Die große chinesische Mauer nahm mit dem Herzog nicht ihren Anfang und fand mit ihm auch nicht ihr Ende, doch der Herzog benutzte sie als erster zum Mord. Jeder, der eine andere Meinung vertrat, wurde in den rauhen Norden geschickt, und Millionen Männer starben während der Arbeit an diesem Staatsprojekt, das Eingeweihte das längste Massengrab der Welt nennen. Weitere Millionen starben beim Bau der Residenz des Herzogs. Das Schloß Des Labyrinths erstreckte sich über einhundertzehn Quadratmeilen, und es bestand in Wirklichkeit aus sechsunddreißig einzelnen Schlössern, die ein Labyrinth unterirdischer Gänge miteinander verband. (Der Herzog wollte sechsunddreißig prunkvolle Schlafzimmer haben, damit Meuchelmörder nie wissen sollten, wo er schlief.) Unter dem künstlichen Labyrinth befand sich ein natürliches, tief im Innern der hohen Steilküste. Man erzählte, dort hause ein schreckliches Ungeheuer, das die schreienden Opfer des Herzogs von Ch'in verschlang. Wahrheit oder Legende? Jedenfalls wurden Tausende in dieses Labyrinth geworfen und nie wieder gesehen.
Dem Herzog gelang noch ein weiteres Meisterstück. Er ließ sich von den besten Handwerkern im Reich die große goldene Maske eines brüllenden Tigers anfertigen, die er bei allen öffentlichen Anlässen trug. Seine Nachfolger übernahmen diesen Brauch und bedienen sich dieser Maske nun inzwischen seit mehr als achthundert Jahren. Hatte ein Herzog wäßrige Augen, ein fliehendes Kinn, litt er an Zuckungen im Gesicht? Seine Untertanen sahen immer nur eine erschreckende Maske, »den Tiger von Ch'in«, und der Abt erzählte mir, die barbarischen Herrscher von Kreta hätten zu demselben Zweck die Maske eines Stiers benutzt.
Geheimnisse und Schrecken sind Bollwerke der Tyrannei, und vierzehn Jahre lang hallte durch ganz China ein einziges Wehgeschrei. Doch dann beging der Herzog den Fehler, die Steuern soweit zu erhöhen, daß den Bauern nur die Wahl zwischen Hunger oder Rebellion blieb. Ihre Waffen hatte er beschlagnahmen lassen, doch im Umgang mit den Bauern war er nicht klug genug, um auch ihre Bambushaine zu beschlagnahmen. Einen gespitzten Bambusspeer sollte man meiden; als der Herzog mehrere Millionen in seine Richtung marschieren sah, verzichtete er schnell auf das Reich und verschanzte sich im Schloß des Labyrinths. Dort war er unangreifbar, und da er immer noch das größte Heer im Land besaß, einigte man sich stillschweigend darauf, daß Ch'in als Staat im Staat existieren würde.
Kaiser kamen, und Kaiser gingen, doch die Herzöge von Ch'in schienen bis in alle Ewigkeit zu herrschen; sie saßen knurrend und fauchend in dem monströsesten Monument brutaler Macht, das die Menschheit kennt.
Das Schloß des Labyrinths liegt inzwischen in Trümmern. Es ist ein gewaltiger Berg großer geborstener grauer Steine und rostenden Eisens auf einem hohen Felsen direkt am Gelben Meer. Dort gibt es die höchsten Flutwellen in ganz China, und die gestürzten Steine erzittern unter der Gewalt des Wassers. Ranken überziehen die klaffenden Eisentore, Eidechsen mit Regenbogenbäuchen und Türkisaugen klettern über die Mauerreste, und Spinnen eilen durch die ewigen Schatten, die Bananen und Bambus werfen. Im Schloß wohnen jetzt riesige, haarige, aber harmlose Spinnen. Seine früheren Bewohner waren ebenso
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