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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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weigerte sich, den Beutel herzugeben. Sie zerrten beide immer noch an dem Beutel, als der zweite Pfeilhagel auf sie niederging. Der Mann stürzte tödlich getroffen zu Boden, und die Frau taumelte davon, obwohl ein Pfeil unter ihrem linken Schulterblatt steckte. Der Regen tarnte gnädig die kleine, entschlossene Gestalt, die den gewundenen Pfad hinaufkroch, der zum Kloster Sh'u führte.«
    Meister Li hob die Flasche und trank durstig. Ich hatte keine Ahnung, warum er mir die Geschichte erzählte, doch zumindest lenkte er mich von meinen Sorgen ab.
    »Der Pfeil war ihr Paß«, sagte er, »er trug das Tigerwappen des Herzogs von Ch'in, und im Kloster Sh'u haßte man den Herzog von Ch'in. Man tat, was man konnte, und beim ersten schwachen Morgenlicht erklang das dünne Weinen eines Neugeborenen in den Mauern. Der Abt und die Hebamme hatten ein kleines Wunder vollbracht, um das Kind zu retten. Aber für die Mutter konnten sie nichts tun.
    »Tapfere Frau, flüsterte der Abt, und wischte ihr den Schweiß von der fiebernden Stirn, tapfere Rebellin gegen den bösen Herzog von Ch'in.
    Die Hebamme zeigte ihr das schreiende Kind. »Tausendfacher Segen, liebe Frau! Ihr habt einen gesunden Sohn geboren, sagte sie. Die Nasenflügel der Sterbenden zuckten und blähten sich. Sie öffnete die Augen. Mit ungeheurer Anstrengung hob sie die Hand und wies auf die Hebamme.
    Kao, keuchte sie, »Li... Li... Li... Kao.. .«
    Mein Kopf fuhr hoch, und ich sah Meister Li mit weit aufgerissenen Augen an, der mir zuzwinkerte.
    »Die Augen des Abts schwammen in Tränen. »Ich habe es gehört, meine Tochter, sagte er mit belegter Stimme, »dein Son soll Li Kao heißen.
    »Kao! keuchte die Frau, Li... Li... Kao.. .
    »Ich verstehe, meine Tochter, schluchzte der Abt, »ich werde Li Kao als meinen eigenen Sohn erziehen, und ich werde seine Füßchen auf den rechten Weg setzen. Er wird in den Fünf Tugenden und den Erhabenen Grundsätzen unterwiesen werden, und am Ende seines tadellosen Lebens sicher durch Die Pforten Der Großen Leere in Die Gesegneten Regionen Des Reinen Seins gelangen^« Meister Li goß sich wieder einen halben Liter hinter die Binde und bot auch mir einen Schluck an, der mir wieder die Luft nahm. »In den Augen der Frau glühte eine starke Erregung, die seltsamerweise an rasenden Zorn erinnerte«, fuhr Meister Li fort, »doch ihre Kräfte waren erschöpft. Sie schloß die Augen, ihre Hand sank schlaff auf das Bett, und ihre Seele machte sich auf den Weg zu den Gelben Quellen Unter der Erde. Die Hebamme war zutiefst gerührt. Sie zog zitternd eine kleine mit Ziegenfell bezogene Flasche aus ihrem Gewand und nahm einen tiefen Schluck. Dem Abt wurde es von dem Geruch eiskalt ums Herz. Dieser abscheuliche Gestank konnte nur vom besten Farbverdünner und vom schlimmsten Wein stammen, den je ein Mensch sich ausgedacht hatte: Kao-liang. Ich wiederhole: Kao-liang. War es möglich, daß die sterbende Frau nicht ihr Kind benannt, sondern einen Schluck aus der Flasche verlangt hatte? Es war tatsächlich möglich, und wie sich herausstellte, hatten die Soldaten des Herzogs sie nicht verfolgt, weil sie eine heroische Rebellin war, sondern weil sie und ihr Mann die Regimentskasse gestohlen hatten. Meine Eltern waren die berüchtigtsten Gauner in ganz China, und meine Mutter hätte ohne weiteres fliehen können, wenn sie sich mit meinem Vater nicht um die Beute gestritten hätte.« Meister Li schüttelte nachdenklich den Kopf.
    »Vererbung ist etwas Merkwürdiges, Ochse... ich habe meine Eltern nie gekannt, aber im zarten Alter von fünf Jahren stahl ich dem Abt die Silberschnalle vom Gürtel. Mit sechs ließ ich seinen Tintenstein aus Jade mitgehen. An meinem achten Geburtstag stahl ich die Goldquaste vom besten Hut des Abtes, und darauf bin ich immer noch stolz, denn bei dieser Gelegenheit hatte er ihn auf dem Kopf. Als ich elf war, tauschte ich die bronzenen Räuchergefäße des Abtes in ein paar Krüge Wein ein und betrank mich hemmungslos in der Gasse der Fliegen. Mit dreizehn lieh ich mir seine silbernen Kerzenleuchter aus und schlich mich in die Gasse der Vierhundert Verbotenen Freuden. Die Jugend« rief Meister Li, »wie süß und doch beklagenswert schnell vergehen die friedlichen Tage unserer Unschuld.« Er steckte die Nase wieder in die Weinflasche und rülpste zufrieden.
    »Der Abt des Klosters Sh'u war wirklich heroisch«, erzählte er weiter, »er hatte gelobt, mich als seinen Sohn zu erziehen, und er hielt sein Wort. Er trichterte

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