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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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weiß, daß es bei mir so war. Die Höhle diente in meiner Kindheit uns jugendlichen Abenteurern als Hauptquartier, und wir hatten bei allen wichtigen Fragen die unfehlbaren Drachenknochen konsultiert. Jetzt entzündete ich ein Feuer in der alten Kohlenpfanne und legte den Schürhaken hinein. Die Hunde drängten sich um mich und beobachteten mich interessiert, während ich einen glatten, unbeschädigten Knochen suchte. Auf die linke Seite schrieb ich »Ja« und auf die rechte »Nein«. Dann räusperte ich mich.
    »O Drachen, werde ich die Große Wurzel der Macht im Labyrinth des Herzogs von Ch'in finden und lebend wieder herauskommen?« flüsterte ich heiser.
    Ich wickelte ein altes Stück Pferdefell um meine Hand und griff nach dem Schürhaken. Die Spitze bohrte ich zischend in den Knochen, der langsam zu reißen begann. Der Riß bewegte sich auf die Antwort zu. Dann teilte er sich in der Mitte. Die linke Hälfte des Knochens barst, und der Riß durchschnitt das »Ja«, während der rechte das »Nein« teilte. Ich starrte auf die Botschaft. Würde ich die Wurzel finden, aber nicht am Leben bleiben, um die Geschichte zu erzählen? Würde ich .im Leben bleiben, um die Geschichte zu erzählen, die Wurzel jedoch nicht finden? Ich war völlig durcheinander, bis mir einfiel, daß ich nicht mehr zehn Jahre alt war. Ich bekam einen roten Kopf. » Dummkopf«, murmelte ich.
    Die Sonne war inzwischen untergegangen. Mondstrahlen fielen in die Höhle, trafen meine linke Hand, und die kleine Narbe am Handgelenk schimmerte wie Silber. Ich warf den Kopf zurück und Lichte. Meine Freunde aus der Kindheit, die mit mir im Kreis saßen und das Messer herumreichten, als wir Blutsbrüder wurden, wären vor Neid gestorben, wenn sie gewußt hätten, daß das Skelett von Nummer Zehn der Ochse dazu bestimmt war, im geheimnisvollen Labyrinth des Herzogs zu klappern. Ich schloß ein paar Hunde in die Arme, als ich feierlich den heiligen Schwur der Sieben Blutrünstigen Räuber der Drachenknochenhöhle intonierte.
    »Rattendreck, Mäusespeck, giftiger Krötenneid, Knochen, Bein und Blutsbrüdereid...«
    »Wirklich vortrefflich«, hörte ich beifällig eine Stimme, »es übertrifft den Gelehrteneid um viele Ellen.«
    Die Hunde bellten aufgeregt, als Meister Li in die Höhle kroch. Er setzte sich und blickte sich um.
    »Skapulimantik war ein Schwindel«, bemerkte er, »mit etwas Übung könnte ein Wahrsager den Knochen in jede gewünschte Richtung reißen oder sogar durch den Reifen springen lassen. Hast du als Junge je geschwindelt?«
    »Dann wäre ich ein Spielverderber gewesen?« antwortete ich. »Sehr klug«, sagte er, »der Abt, der auch sehr klug ist, hat mir gesagt, ich würde dich hier finden. Und wenn nicht, sollte ich einfach hier warten. Du mußt dich nicht schämen, in die Kindheit zurückzufallen, Ochse, denn jeder von uns muß das hin und wieder, um den gesunden Menschenverstand nicht zu verlieren.« Er hatte eine große Flasche Wein bei sich, die er mir entgegenstreckte.
    »Hier, trink, und ich will dir eine Geschichte erzählen«, sagte er. Ich nahm einen Schluck von dem scharfen Zeug, und ich rang nach Luft. Li Kao griff nach der Flasche und trank etwa einen halben Liter.
    »Es war eine dunkle und stürmische Nacht«, begann er und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, »ein kalter Wind heulte, Blitze zuckten über den Himmel wie Schlangenzungen, der Donner grollte wie wütende Drachen, und es regnete in Strömen. Durch den Sturm drang das Quietschen von Wagenrädern und das Klappern von Hufen, und dann der gefürchtetste Laut in ganz China: die gellenden Jagdhörner der Soldaten des Herzogs von Ch'in.« Diesmal rang ich auch ohne Wein nach Luft, und Li Kao klopfte mir freundlich auf den Rücken.
    »Ein Maultier zog einen zweirädrigen Karren in selbstmörderischem Tempo einen Bergpfad hinunter. Auf dem Sitz wurden ein Mann und eine Frau hin und her geschleudert«, fuhr er fort, »die Frau war im neunten Monat schwanger und umklammerte einen großen Leinwandbeutel, während der Mann die Peitsche schwang. Wieder erklangen hinter ihnen die schrecklichen Hörner, und dann flog ein Hagel von Pfeilen durch die Nacht. Das Maultier taumelte, stürzte, und der Karren landete im Graben. Anscheinend waren die Soldaten hinter dem Beutel her, den die Frau trug, denn der Mann versuchte, ihn ihr abzunehmen, damit die Soldaten ihn verfolgen sollten, während sie flüchtete. Doch die Frau stand dem Mann in Tapferkeit nicht nach und

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