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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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grotesk, jedoch nicht so harmlos, und als ich das Schloß des Labyrinths zum ersten Mal sah, stand es noch in all seiner Pracht auf dem Felsen.
    Unser Schiff glitt langsam durch den dicken Morgennebel auf das Gelbe Meer zu, und die lauten Kommandorufe schienen mir direkt ins Ohr gebrüllt zu werden. Die Luft erdröhnte unter gewaltigen metallischen Schlägen, dem Geklirr zahlloser Waffen und dem schweren Tritt marschierender Füße. Dann begann sich der Nebel zu heben, und mit ihm hoben sich meine Augen, wanderten über eine steile Felswand nach oben bis zur gewaltigsten Festung der Welt: ein gigantischer Bau, von Gräben umgeben und mit Türmen bestückt -uneinnehmbar! Ich starrte voll Entsetzen auf Türme, die in die Wolken ragten, auf gewaltige Eisentore, die wie schreckliche Fangzähne schimmerten, und auf die Zugbrücke, über die mühelos vier Kavallerieschwadronen nebeneinander reiten konnten. Die mächtigen Steinmauern waren so dick, daß die berittenen Patrouillen wie Ameisen wirkten, die auf kleinen Spinnen saßen. Unter den eisenbeschlagenen Hufen lösten sich Steine, die über die Steilwand hinunterfielen und rings um das Schiff ins Wasser klatschten. Einer der Felsbrocken traf das Dach der Kabine, in der Li Kao seinen Rausch ausschlief. Er schwankte an Deck, starrte nach oben und rieb sich die Augen. »Eine abstoßende Architektur, nicht wahr?« fragte er gähnend. »Der erste Herzog besaß nicht das geringste Gefühl für Ästhetik. Was ist los, Ochse? Ein leichter Kater?«
    »Nur leichte Kopfschmerzen«, erwiderte ich kleinlaut. Der Nebel lichtete sich, und ich machte mich furchtsam auf den Anblick der vermutlich düstersten und abscheulichsten Stadt der Erde gefaßt. Ich zweifelte an meinem Verstand, als ich die fröhlichen Lieder der Fischer hörte und der Wind mir den Duft von unzähligen Blüten zutrug. Endlich klarte es völlig auf, und ich starrte ungläubig auf eine Stadt, die so schön war wie aus einem Märchen. »Merkwürdig, nicht wahr?« sagte Meister Li, »Ch'in ist unvergleichlich schön. Außerdem ist es die sicherste Stadt in ganz China. Und der Grund dafür ist seltsamerweise Habgier.«
    Er nahm einen Schluck Wein gegen einen möglichen Kater und rülpste zufrieden.
    »Alle Nachfolger des großen Herzogs lebten nur für Geld, und anfangs waren ihre Methoden, um es sich zu beschaffen, brutal, aber wirkungsvoll«, erklärte er. »Einmal im Jahr wählte der regierende Herzog aufs Geratewohl ein Dorf, brannte es nieder und köpfte die Bewohner. Dann begab sich der Herzog mit seinem Heer auf die jährliche Rundreise, um seine Steuern einzuziehen. Die abgeschlagenen Köpfe wurden aufgespießt auf langen Stangen vorausgetragen, und die Herzöge von Ch'in freuten sich über den Eifer, mit dem die Bauern herbeiströmten, um ihre Steuern zu bezahlen. Unausbleiblich k.im früher oder später ein aufgeklärter Herzog an die Macht, und er ging als der Gute Herzog in die Geschichte ein. Wie man sich erzählt, sprang er während einer Ratsversammlung mit seinen Ministern auf, hob belehrend die Hand und rief mit donnernder Stimme: »Leichen können keine Steuern zahlen. « Diese grandiose Erleuchtung führte zu einer veränderten Taktik.«
    Li Kao bot mir einen Schluck Wein an, doch ich lehnte ab. »Der Gute Herzog und seine Nachfolger mordeten auch weiterhin Hauern aus Geldgier und zum Vergnügen. Die Steuer wird noch immer Jahr für Jahr eingetrieben, doch man erlaubte den Reichen, die Truhen des Herzogs freiwillig zu füllen«, erklärte Meister Li, »der Gute Herzog verwandelte seine düstere Küstenresidenz in die größte und teuerste Vergnügungsstadt der Welt. Ochse, in Ch'in ist jeder Luxus und jedes erdenkliche Laster zu Hause, allerdings muß man dafür unerschwingliche Preise bezahlen. Da die Herzöge keine Verbrechen dulden, durch die ihnen Einnahmen entgehen könnten, macht sich für die Einwohner dieser hohe Preis mehr als bezahlt. Die Reichen sind nicht gezwungen, ganze Heere von Wächtern zu bezahlen, und in Ch'in - und nur in Ch'in - kann ein reicher Mann ein sorgloses Leben führen. Solange jemand großzügig gibt, hat er von den Herrschern im Schloß des Labyrinths nichts zu fürchten. Es ist fast nicht übertrieben, wenn ich sage, daß wir beide bald ins Paradies auf Erden kommen werden.«
    Ich werde später die Stadt beschreiben. Wir standen als erstes vor der Aufgabe, jemanden zu finden, der uns in das Labyrinth und wieder herausführen konnte. Eine Stunde, nachdem wir an Land

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