Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Zollhaus ein, und eine Stunde später hatte er gefunden, was er suchte. Alles, was den Hafen von Ch'in verließ oder dort ankam, wurde mit hohen Steuern belegt. Ein unglaublich dicker Kaufmann entrichtete eine Exportsteuer, die dem Lösegeld für einen Kaiser entsprach. Eine kleine Armee von Wächtern - ein seltener Anblick in Ch'in - hatte Aufstellung um vier längliche Holzkisten bezogen. Da das Schiff erst in einigen Stunden ablegen würde, watschelte der Kaufmann davon, um ein leichtes Mittagessen zu sich zu nehmen.
»Ochse, du folgst diesem Burschen, und dann kommst du zurück und sagst mir, was er ißt«, sagte Meister Li. »Was er ißt?«
»Was er ißt.«
Völlig erschüttert kehrte ich zurück. »Meister Li, Ihr werdet es nicht glauben, aber dieser Mann hat sein Mittagessen mit vier großen Terrinen voll Nelkenpfeffersuppe mit Klößchen begonnen«, erzählte ich, »dann hat er drei Schüsseln gekochte Muscheln verschlungen, ein Pfund eingelegte Okras, zwei Pfund gedämpfte Schnecken, drei Portionen Krabben, zwei Teller Süßigkeiten, zehn Honigkuchen und eine Wassermelone. Der Wirt erkundigte sich, ob der geschätzte Gast sechs oder sieben Pfund Pfirsiche in Sirup als Abschluß wünsche, doch der Kaufmann erklärte, er müsse zur Zeit eine Diät einhalten und sich leider mit grünem Tee und Pinienkernen begnügen.«
»Wo ist er jetzt?«
»Im Dampfbad. Er läßt sich massieren, und zwei Kellner aus dem Restaurant stehen mit einer Magenpumpe daneben.« Großartig«, sagte Meister Li zufrieden, »komm mit, Ochse, wir müssen den skrupellosesten Alchemisten der Stadt finden und einen Krug mit dem Elixir Der Einundachtzig Ekelhaften Essenzen erwerben, und dann müssen wir einen Sarg kaufen.« Als der Kaufmann nach seiner Massage zum Hafen zurück gewatschelt kam, bot sich ihm ein erschütternder Anblick. Ich lag über einem Sarg, schluchzte herzerweichend, während Li Kao sich klagend die Haare raufte. »Huu, Huu!« heulte ich.
»Die Braut meines geliebten Urenkels ist tot«, jammerte Meister Li. »Sag etwas, meine Geliebte!« schrie ich und hämmerte auf den Sargdeckel. »Zehn Millionen Flüche auf den Koch, der mich dazu überredet hat, bei der Hochzeitsfeier meines Urenkels Stachelschwein zu servieren!« kreischte Meister Li.
Im Handumdrehen stand der Kaufmann neben ihm. »Stachelschwein? Habt Ihr Stachelschwein gesagt?«
»Stachelschwein«, schluchzte Meister Li.
»Aber verehrter Herr, wußtet Ihr nicht, daß Stachelschwein tödlich sein kann, wenn es nicht richtig zubereitet ist?« Li Kao richtete sich entrüstet auf. »Haltet Ihr mich für einen Dummkopf?« fauchte er, »ich habe die Zubereitung selbst überwacht. Und jeder Schritt wurde genau nach den Anweisungen von Li Tsening ausgeführt.«
»Bestimmt nicht«, erwiderte der Kaufmann betroffen, »von dem großen Li Tsening stammt das Buch Die Kunst, ein Stachelschwein zu kochen!«
»Weshalb sollte ich sonst seinen Anweisungen gefolgt sein, Dummkopf!« schrie Meister Li.
Der Kaufmann bekam einen starren Blick, und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. »War es ein junges, frisches Stachelschwein?« flüsterte er sabbernd. »Kaum ein Jahr alt und am Tag zuvor in der Falle gefangen«, schluchzte Meister Li.
Der dicke Bauch des Kaufmanns zuckte krampfhaft. »Aus Yushan?« flüsterte er. »Direkt vom Fluß«, stieß Meister Li mühsam hervor. Das war zuviel für den Kaufmann. Er watschelte zu seinen Wächtern hinüber, öffnete einen großen Sack, zog einen gepökelten Karpfen heraus, verschlang ihn geräuschvoll und watschelte zurück. »Die Füllung!« keuchte er, »hat man die Füllung ein Jahr zuvor gemacht?«
»Genau vor einem Jahr«, antwortete Meister Li, »und es wurden nur die besten gelben Bohnen benutzt.«
»Seid Ihr sicher, daß alle schwarzen und braunen Bohnen herausgelesen wurden? Der allerkleinste Fehler kann tödlich sein!«
»Alle schwarzen und braunen Bohnen wurden ebenso wie die mit roten Flecken von Hand entfernt«, erwiderte Meister Li aufgebracht, »der Rest wurde fünfzehnmal gesiebt und sorgfältig überprüft. Ich war mir der Gefahr durchaus bewußt!«
»Verehrter Herr, ich will Euch nicht beschuldigen«, sagte der Kaufmann zerknirscht, »aber ich muß wohl kaum darauf hinweisen, daß ein Fehler begangen worden sein muß, da die bedauernswerte Braut Eures Urenkels... ah... hat man möglicherweise Reismehl benutzt?«
»Seid doch kein Esel, junger Mann!« fuhr Meister Li ihn wütend an. »Reismehl hätte jeden Gast
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