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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Felsvorsprung. Das Licht kam von einer Fackel. Li Kao nahm sie aus der Halterung und schwang sie durch die Luft.
    Wir befanden uns in einer riesigen aus schwarzem Stein gehauenen Höhle. Die Luft war feucht und stickig, und es roch unangenehm. Vor uns befand sich ein Tunnel, und als Meister Li die Fackel hob, sahen wir, daß die berühmten Maxime des ersten Herzogs über dem Bogen in den Stein gemeißelt war:
     
    strafe schafft macht, macht schafft stärke, stärke schafft ehrfurcht, ehrfurcht schafft tugend; also hat tugend ihren ursprung in strafe.
     
    Wir betraten den Gang und entdeckten, daß zahllose enge Tunnel davon abzweigten. Wir gingen auf Menschenknochen, und der Gestank kam von verwesendem Fleisch, obwohl ich keine frischen Leichen bemerkte. Ich starrte auf zerschmetterte Schädel und Schenkelknochen, die wie Bambusrohr durchgebrochen waren.
    »Meister Li«, flüsterte ich, »das Wesen, das dies getan hat, muß stärker sein als zwanzig Drachen.«
    »Oh, noch sehr viel stärker.« Er fuhr mit den Fingern über den Stein, und als er sie mir unter die Nase hielt, roch ich Tang. Dann hob er die Fackel hoch über den Kopf, und als ich nach oben blickte, sah ich die Kadaver, die den schrecklichen Gestank verursachten. Sie hingen in den Nischen des Steinernen Gewölbes. Ein halbes Gesicht starrte mich an, und aus einem baumelnden Bein tropfte Blut. »Das Ungeheuer, das in diesem Labyrinth haust, ist nichts anderes als die Flut«, erklärte Meister Li gelassen, »und wenn die Flut hinauskann, können wir das auch. Ochse, war das eine Art Trickbeil, so etwas wie die falschen Schwerter, die man beim Karneval benutzt?«
    »Nein, Meister«, sagte ich entschieden. »Es war ein richtiges Beil, und es steckte wirklich im Herzen des Herzogs.« Li Kao kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Seltsam«, murmelte er. »Wenn wir hier lebend herauskommen, müssen wir aus rein wissenschaftlichem Interesse unbedingt noch einmal den Versuch machen, ihn umzubringen.«
    »Meister Li, der Herzog kann Gedanken lesen«, flüsterte ich und zitterte dabei am ganzen Leib. »Er hat durch meine Augen hindurchgeblickt, und ich spürte, wie sein Geist über meinen hinwegkroch. Es fühlte sich feucht und klebrig an und war wie eine Schnauze mit kalten schleimigen Lippen.«
    »Deine Fähigkeit, Dinge zu beschreiben, ist bemerkenswert«, sagte Meister Li, aber ich wußte, daß er mir kein Wort glaubte. »Wofür hat er sich denn so sehr interessiert?«
    Ich hatte es beinahe vergessen, aber jetzt griff ich nach dem Ding, das Lotuswolke mir um den Hals geworfen hatte: eine Silberkette, an der ein großes Stück Koralle hing. Es war eine wunderschöne tiefrote Koralle, und ein eingelegter grüner Jadedrachen wand sich geschickt durch die Öffnungen. Ich fragte mich, wie der Schlüsselhase zu einem so wunderschönen Anhänger gekommen sein sollte, denn er mußte sehr teuer gewesen sein. Ich suchte nach einer Botschaft, die möglicherweise hineingeritzt war, doch ich entdeckte nichts.
    Li Kao zuckte mit den Schultern. »Nun ja, jedenfalls sind wir im Labyrinth, und das war schließlich unsere Absicht. Den Ausgang zu finden, kann jedoch ein gewisses Problem sein, und ich schlage vor, wir machen uns sofort auf die Suche.«
    Er ging entschlossen voran, ohne die Seitentunnel zu beachten. Der Hauptgang zog sich endlos durch den feuchten tropfenden Felsen, und schließlich sah ich vor uns etwas schimmern. Beim Näherkommen erkannte ich eine riesige Kopie der Tigermaske. Sie war vielleicht zehn Fuß hoch und war am Ende des Gangs in den Felsen eingelassen. Das Maul stand weit offen, und die glänzenden Zähne bestanden aus massivem Eisen. Dahinter befand sich ein schwarzes Loch. Li Kao bewegte die Fackel über eine merkwürdige Anordnung von Lamellen, die das Maul des Tigers umgaben. »Toneffekte«, sagte er schließlich. »Die Flut oder ein Teil des Wassers strömt durch dieses Loch und durch die Lamellen. Wenn das Wasser steigt, wird das Geräusch lauter. Ich könnte mir denken, daß es wie das Brüllen eines wütenden Tigers klingt, und wir sollten besser einen anderen Ausgang finden, ehe wir es hören.« Er ging zurück und suchte aufmerksam die Felswände nach glatten Stellen ab, die auf den Verlauf des Wassers schließen ließen. Dann bog er ab und eilte in einen Seitentunnel. Im zuckenden Fackellicht entdeckten wir noch mehr Knochen, und der Gang war so niedrig, daß ich mich bücken mußte, um mit dem Kopf nicht gegen ein Skelett zu stoßen, das

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