Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
einen gewaltigen goldenen Thron zu. Ich zitterte vor Angst, als ich mich dem Herzog von Ch'in näherte. Die schreckliche Maske des brüllenden Tigers wurde immer riesiger und bedrohlicher, und der Herzog war so groß, daß seine breiten Schultern im richtigen Verhältnis zu der riesigen Maske standen. Er trug goldene Kettenhandschuhe und einen langen Umhang aus Federn. Schaudernd bemerkte ich, daß die Federn am Saum dunkelrote Blutspuren aufwiesen. Der Richtblock und das Becken, in das die Köpfe fielen und das Blut floß, standen beinahe direkt vor seinen Füßen. Offensichtlich genoß er den Anblick.
An allen vier Wänden standen Soldaten, und zwei Reihen Würdenträger flankierten den Thron. Der Henker war ein riesiger, bis zur Hüfte nackter Mongole, und sein glänzendes Beil war beinahe so groß wie er selbst. Ein Bonze vollzog die letzten Riten, und die Zeremonie schien mir mit ungebührlicher Hast vonstatten zu gehen. Man nahm die Kette ab, an die die Verurteilten gekettet waren, allerdings blieben unsere Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Dann wurde das erste Opfer vorwärtsgeschoben. Ein Offizier verlas die Anklage und das Todesurteil, und die Soldaten traten dem armen Burschen so geschickt gegen die Beine, daß er vornüber fiel und sein Hals auf dem Richtblock lag. Der Bonze murmelte das kürzeste Gebet, das ich je gehört hatte, und der Offizier fragte das Opfer, ob es noch etwas zu sagen habe. Der Verurteilte versuchte noch einmal verzweifelt, um Gnade zu flehen, doch der Bonze setzte dem mit einem Nicken zum Henker ein Ende.
Das riesige Beil hob sich, und im Saal wurde es still. Ein metallisches Blitzen, ein dumpfer Schlag, Blut spritzte, und der Kopf landete mit einem Übelkeit erregenden Klatschen im Becken. Die Würdenträger applaudierten höflich, und der Herzog von Ch'in wieherte leise vor Vergnügen.
Zu meinem Erstaunen fiel Li Kao in Ohnmacht - zumindest glaubte ich das, bis ich begriff, daß er die Gelegenheit nutzte, um nach seiner linken Sandale zu greifen. Er schob den Absatz beiseite und brachte ein paar Dietriche zum Vorschein, aber schon zerrten ihn die Soldaten wieder fluchend auf die Beine. Li Kao gelang es, mir einen der winzigen Dietriche in die Hände zu drücken.
»Ochse, wir können unmöglich von hier fliehen«, flüsterte er. »Ich fürchte, wir können für die Kinder in deinem Dorf nichts tun. Aber einer der Herzöge von Ch'in hat meine Eltern getötet, und wenn du keine Einwände hast, werden wir versuchen, diesem Hund den Hals durchzuschneiden.«
Ich hatte keine Einwände, aber der Dietrich war zu klein, und mit auf dem Rücken gefesselten Händen fiel es mir sehr schwer, ihn erfolgreich zu benutzen. Wieder und wieder flog das große Beil blitzend durch die Luft, die Würdenträger klatschten beinahe ununterbrochen Beifall, und die Verurteilten näherten sich immer weiter dem Thron. Der Herzog lachte, wenn die Köpfe klatschend im Becken landeten, und die Soldaten machten ihre Späße mit dem Offizier, wenn sie die Leichen wegschleppten. Manchmal zuckten die Beine noch, und das aus den Hälsen sprudelnde Blut bildete klebrige rote Pfützen, die sich mit den dunklen Rinnsalen aus dem überfließenden Becken vereinten. Von den Federn am Saum des herzoglichen Umhangs fielen scharlachrote Tropfen. Dann stand nur noch ein Gefangener zwischen mir und dem Beil. Es war ein schlanker, leicht vorgebeugter Mann im mittleren Alter; er hatte das Massaker mit ironischer Würde beobachtet. »Chin Shengt'an. Er hat gewagt, gegen die Steuern zu protestieren, die der Herzog von Ch'in den Bauern auferlegt hat. Das Urteil lautet: Tod!« brüllte der Offizier.
Zu einem solchen Protest mußte ungeheurer Mut gehört haben. Später erfuhr ich, daß Chin Shengt'an einer der größten Schriftsteller und Kritiker im Reich gewesen war, und sein Name bedeutete: »Seufzer des Weisen«, denn als er geboren wurde, hörte man im Tempel des Konfuzius einen tiefen Seufzer. Man trat ihm gegen die Füße, sein Hals lag auf dem Richtblock, der Bonze murmelte ein Gebet, und der Offizier fragte, ob er noch etwas zu sagen habe. Chin Shengt'an blickte ironisch auf.
»Eßt eingelegte Rüben mit gelben Bohnen«, sagte er höflich, »sie schmecken nach Walnuß.«
Ich bedaure zutiefst, daß ich keine Gelegenheit hatte, ihn kennenzulernen. Das Beil sauste durch die Luft, und der Kopf des Mannes, der es gewagt hatte, gegen ungerechte Steuern zu protestieren, fiel zu den anderen in das Becken. Die
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