Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
über mir in einer Felsspalte hing. Der unbeschreibliche Gestank verwesenden Fleisches hing in der Luft. Li Kao bog in einen anderen niedrigen Tunnel ein, dann wieder in einen anderen, und wir bogen um Ecken und wanden uns um Kurven, bis ich völlig die Orientierung verloren hatte. Meister Li schritt jedoch zuversichtlich aus und folgte dabei unmerklichen Zeichen, die daraufhin deuteten, daß Wasser einem Ausgang zufloß. Schließlich brummte er zufrieden.
Der niedrige Tunnel weitete sich, wurde höher, und vor uns öffnete sich ein riesiger schwarzer Torbogen. Meister Li lief hindurch und blieb wie angewurzelt stehen. Ich starrte voll Entsetzen auf eine riesige Höhle und auf einen Teich mit einem Durchmesser von etwa fünfzig Fuß. Hoch oben im Deckengewölbe über dem Teich befand sich die Falltür, die zum Thronsaal des Herzogs von Ch'in führte. Wir waren wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt! Mir standen die Haare zu Berge, als ich ein schwaches Knurren und Grollen im Dunkel hinter uns hörte. Dünne dunkle Schatten glitten wie Schlangen über den Felsboden. Es war Wasser, die Flut kam... Li Kao stand mit nachdenklich gerunzelter Stirn regungslos da. »Ochse, was sagte Lotuswolke, als sie dir den Drachenanhänger gab?« fragte er ruhig.
Ich wiederholte die unzusammenhängenden Worte, die ich verstanden hatte, und sie ergaben für mich immer noch keinen Sinn. Das Wasser stieg mit erschreckender Geschwindigkeit, schwappte an meine Knöchel, und der Tiger am Ende des Tunnels begann zu brüllen.
»Der Herzog von Ch'in lebt nur für Geld«, sagte Meister Li langsam, laut denkend. »Er häuft das Zeug in seinen Schatzkammern auf, und wer außer dem Herzog muß Zugang dazu haben? Der Mann, der das Geld eintreibt und zählt, und zufällig ist Lotuswolke mit ihm verheiratet. Offenbar hat er eine leichtsinnige Bemerkung über den Anhänger gemacht, und das würde auch erklären, weshalb der Schlüsselhase etwas so Wertvolles besitzen durfte. Ochse, bück dich.« Ich bückte mich, und er hüpfte mir auf den Rücken. In der einen Hand hielt er die Fackel und in der anderen den Drachenanhänger. »Lotuswolke hat gesagt, wenn dem Herzog nach Spielen zumute ist, sollten wir dem Drachen folgen. Als der Herzog uns in das Labyrinth stürzte, sagte er, wir würden ein Spiel spielen. Da uns keine andere Hoffnung bleibt, wollen wir annehmen, daß der Schlüsselhase unvorsichtigerweise seiner Frau ein Geheimnis verriet. Dieses Medaillon ermöglichte ihm, in die Schatzkammer des Herzogs zu gelangen.«
Er hielt die Fackel dicht an den Anhänger.
»Der Drachen überspringt die beiden ersten Löcher in der Koralle und schlängelt sich durch das dritte Loch links«, sagte Meister Li grimmig. »Geh durch den Torbogen, bieg in den dritten Gang links ein und lauf so schnell wie der Wind.«
Ich lief so schnell ich konnte, doch das Wasser ging mir schon beinahe bis zu den Knien. Ich schoß in den dritten Tunnel links, und Li Kao hielt die flackernde Fackel dicht vor den Anhänger. »Zweiter Gang rechts!« schrie er. Die Flut schoß so schnell durch den Gang, daß das brodelnde Wasser die zerschmetterten Knochen mitriß. Der Tiger brüllte so laut, daß ich Meister Li kaum noch hörte: »Dritter links!... Erster rechts!... Zweiter rechts!... Vierter links!«
Der Tiger brüllte in rasender Wut. Das Wasser stieg bis über meine Brust, als ich mich wieder durch die enge Öffnung zwängte, und dann stand ich vor einer nackten Felswand. »Meister Li, wir müssen falsch abgebogen sein!« schrie ich. Ich versuchte, mich umzudrehen und mich zurück zu kämpfen, aber es war hoffnungslos. Das Wasser reichte mir bis zum Hals, und die Flutwelle drückte mich wie die Hand eines Riesen gegen die Mauer. Knochen flogen mir krachend um den Kopf, und einer schlug Li Kao die Fackel aus der Hand. Wir standen in völliger Dunkelheit, und das kochende Wasser schlug mir über den Mund.
Li Kaos Finger entdeckten, was seinen Augen entgangen war. »Ochse, der Drache steigt senkrecht nach oben«, schrie er mir ins Ohr. »Hör auf, gegen die Flut anzukämpfen und laß dich von ihr an die Decke tragen!«
Die Flut preßte mich gegen den Felsen, als ich mich mit ihr hob. Li Kao tastete nach oben und suchte eine Öffnung. Er fand sie. Ein enger Kamin durchschnitt den Felsen über der Decke, und es gelang mir unter großen Mühen, mich hineinzuzwängen. Ich stemmte die Füße gegen die Seitenwände und begann zu klettern. Doch die Flut stieg schneller als ich und
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