Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
beschlossen, die Yamakönige zu bitten, daß ich als Faultier wiedergeboren werde, und Ochse möchte eine Wolke werden. Habt Ihr einen besonderen Wunsch?« fragte Li Kao Geizhals Shen.
»Ich möchte ein Baum sein«, erwiderte Geizhals Shen ohne Zögern. »In diesem Leben habe ich nichts anderes getan, als mich an Hypotheken zu bereichern, und wenn ich wiedergeboren werde, möchte ich den Müden Schatten spenden, den Vögeln Schlafplätze bieten, den Hungrigen Früchte schenken, und wenn ich alt und nutzlos bin, den Holzfällern Feuerholz. Die Bauern geben ihren Lieblingsbäumen Namen, und der innigste Wunsch von Geizhals Shen ist es, Alte Großzügigkeit genannt zu werden.«
»Ich werde mich mit meinem Schwanz an Eure Äste hängen«, sagte Meister Li.
»Ich werde über Euch hinwegziehen und Euren Wurzeln Regen bringen«, sagte ich.
»Ich bin überwältigt«, schluchzte Geizhals Shen. »Lebe wohl, Baum.«
»Lebe wohl, Wolke.«
»Lebe wohl, Faultier.«
Ich stieß ab, und wir stürzten dem Pflaster entgegen wie drei Käfer, die sich an einen fallenden Stein klammern.
Ich befahl meine Seele dem Himmel, und dann blähte sich die Fahne.
Wir blieben so plötzlich mitten in der Luft hängen, daß mir beinahe die Arme aus den Schultergelenken gerissen wurden.
»Wir müssen unbedingt irgendwo anhalten und ein paar Perlen für Lotuswolke besorgen«, sagte Geizhals Shen.
»Und Jade«, stimmte ich ihm zu.
»Unglaublich«, seufzte Meister Li.
Der Wind erfaßte die Fahne, und wir trieben gemächlich über die Baumwipfel hinweg auf ein grünes Tal zu, wo in der Ferne ein Fluß glitzerte. Der Turm entschwand unseren Blicken, und wir landeten sanft auf der Erde. Im ersten Dorf erstanden wir ein kleines Boot und sehr viel Wein.
Die Rundreise führte den Herzog von Ch'in wie alle seine Vorgänger auch durch die schreckliche Salzwüste. Wir trieben ohne Zwischenfälle sechs Tage flußabwärts, bis Li Kao die Stelle entdeckte, die er suchte. Ein schmaler Trampelpfad führte vom Ufer zu einem niedrigen Hügel, und das Boot war so leicht, daß ich es über dem Kopf tragen konnte, bis wir wieder Wasser erreichten. Diesmal fuhren wir auf einem kleinen, schnell dahinströmenden Fluß, der nach einigen Tagen immer schmaler und seichter wurde. Die Hitze nahm zu, und schließlich war es so heiß, daß uns der Schweiß in Strömen über den Körper rann. Am vierten Tag umfuhren wir eine Biegung, und ich stellte fest, daß der Fluß plötzlich verschwand. Das Wasser versickerte in den Spalten der hartgebackenen Erde. Bis zum Horizont war nichts zu sehen außer einem blendend weißen Glanz. Das Boot lief auf Grund, und wir kletterten das Ufer hinauf. Li Kao wies auf die blendende Weite vor uns.
»Die Salzwüste«, erklärte er. »Die Bauern schwören, daß der Herzog mit seinen Truppen tagelang verschwindet, wenn er auf seiner Rundreise diesen Punkt erreicht.«
Li Kao suchte nach einem anderen Anhaltspunkt und deutete schließlich auf eine dünne Linie, die unter dem weißen Salz kaum sichtbar war.
»Sie ist zu gerade, um ein Werk der Natur zu sein«, erklärte er. »Wirbelndes Salz deckt die Spuren von Hufen und Rädern zu, doch der darunterliegende Weg bleibt erkennbar, wenn er Jahr für Jahr benutzt wird.«
»Glaubt Ihr, er führt zu einem anderen Schatz?« fragte ich. »Nun ja, das ist ein Gedanke, und selbst ein falscher Gedanke ist besser als keiner«, erwiderte Meister Li. »Irrtum kann den Weg zur Wahrheit weisen, wogegen Hohköpfigkeit nur zu noch größerer Hohlköpfigkeit oder zu einer politischen Laufbahn führt. Geizhals Shen, der Zeitpunkt ist gekommen, an dem ein kluger Mann umkehren würde. Wenn wir dem Herzog auf den Fersen bleiben, werden wir irgendwann Lotuswolke treffen. Aber die Salzwüste hat ganze Karawanen verschluckt, und unser Sterben wird vermutlich alles andere als angenehm sein.«
»Was ist das Leben ohne Lotuswolke«, sagte Geizhals Shen, aus meiner Sicht sehr vernünftig. »Außerdem ist nach einem Leben der Schande das wenigste, was ich tun kann, mit Würde zu sterben.« Voll Staunen erkannte ich, was für ein prachtvoller Mensch sich hinter der schäbigen Fassade verbarg; an diesem Abend sollte ich noch sehr viel mehr über Geizhals Shen erfahren. Wir leerten unsere Weinkrüge und füllten sie mit Wasser. Ich zerschnitt das Segel unseres Bootes und machte ein Zelt daraus. Dann folgten wir dem kaum erkennbaren Weg in die Wüste, und kurz ehe die Sonne aufging, verkrochen wir uns im Zelt, um uns vor
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