Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Geschäftsunternehmen, meine sechs Häuser, meine Sänfte, meinen Tragsessel, mein Pferd, meine drei Kühe, meine zehn Schweine, meine zwanzig Hühner, meine acht scharfen Wachhunde, meine sieben halbverhungerten Diener zu sehr guten Preisen zu verkaufen, und meine... mein lieber Junge erinnerst du dich an meine junge und schöne Konkubine?«
»Lebhaft«, erwiderte ich.
»Mit ihr hatte ich sehr großes Glück, denn ich konnte mir Lotuswolke drei Tage länger leisten, weil ich Hübsche Ping an einen aufstrebenden Jungunternehmer im Bordellgewerbe verkaufen konnte. Auch Hübsche Ping hatte Glück, denn einer ihrer Kunden verliebte sich in sie, machte sie zu seiner dritten Frau und überschüttet sie jetzt mit den Geschenken und der Zuneigung, die sie von mir nie bekommen hat. Das arme Mädchen, ich habe Hübsche Ping schrecklich behandelt«, seufzte Geizhals Shen, »aber damals war ich eigentlich kein Mensch, denn ich kannte Lotuswolke noch nicht.«
»Das finde ich wirklich faszinierend«, sagte Meister Li, »was habt Ihr getan, als Euch nichts mehr geblieben war, um es zu verkaufen?«
»Natürlich Verbrechen begangen«, antwortete Geizhals Shen. »Besonders stolz bin ich auf meine Leistung beim Drachenbootfest. Mir fiel ein, daß dieses Bootsrennen ursprünglich als Opfer für den Geist von Ch'u Yuan stattfand, der sich aus Protest gegen eine korrupte Regierung ertränkt hat. Aber das Fest ist inzwischen soweit heruntergekommen, daß es kaum mehr als ein gewöhnliches Bootsrennen ist, bei dem riesige Summen gewettet werden. Nun ja, da war das Boot mit den Buchmachern und anderen Würdenträgern an Bord, da waren die Drachenboote, die über das Wasser flogen, und da war ich. Ich schritt über das Wasser... auf Stelzen natürlich... in dem gleichen alten Ritualgewand wie Ch'u Yuan und mit einem dichten schwarzen Bart. In der Hand trug ich einen langen Stab. »Elende Hunde! brüllte ich, ihr wagt es, den Jahrestag meines ehrenvollen Todes zu einem Sportfest zu machen? Ich werde euch mit Pest, Taifunen und Erdbeben strafen! «
Mein Auftritt war sehr wirkungsvoll, denn ich hatte meinen Kopf mit einem Schutzmittel eingerieben, den falschen Bart mit Pech getränkt und setzte bei diesen Worten meinen Bart in Brand«, erzählte Geizhals Shen. »Als Ch'u Yuan mit einem flammenden Heiligenschein um den Kopf über die Wogen schritt, sprangen die Buchmacher und Würdenträger ins Wasser und schwammen um ihr Leben. Ich durchschnitt das Ankerseil, kletterte an Bord und segelte mit dem ganzen Geld davon. Ich gab alles für Perlen und Jade aus, doch die Soldaten fingen mich, ehe ich Lotuswolke meine Geschenke überreichen konnte. Und deshalb bin ich hier.« Li Kao drehte sich nach mir um und starrte mich an. »Dieser glückliche, lebensfrohe Mensch mit einer geradezu bewundernswürdigen Begabung für Verbrechen ist Geizhals Shen?« rief er ungläubig, »Ochse, diese Wandlung ist wirklich wunderbar!«
Er drehte sich wieder um und verbeugte sich vor Geizhals Shen. Lassen wir die Titel beiseite«, sagte er. »Ich heiße Li, mein Vorname ist Kao, und ich habe einen kleinen Charakterfehler. Dies ist mein geschätzter Klient, Nummer Zehn der Ochse. Wir haben etwas Wichtiges zu tun, deshalb müssen wir so schnell wie möglich von diesem Turm fliehen und würden uns geehrt fühlen, wenn Ihr uns begleiten würdet.«
Geizhals Shen wischte sich die Tränen aus den Augen. »Es sind vierzig Jahre her, seit jemand zum letzten Mal meine Begleitung wünschte«, schluchzte er. »Aber leider kann man von diesem Turm nicht fliehen.«
»Irgendetwas wird sich schon ergeben«, erklärte Meister Li zuversichtlich.
Er sollte recht behalten, obwohl er selbst staunte, als sich die Gelegenheit bot. Vor den Palasttoren entstand großer Lärm. Dann drängte sich eine Menschenmenge in den Hof und verlangte, den Gouverneur zu sprechen. Der Gouverneur trat in Begleitung unseres Stachelschweinkaufmanns aus dem Palast, die Menge teilte sich und gab den Blick frei auf einen wütenden Bauern, eine Kuh und zwei zwielichtige Herren. Stimmengewirr drang zu uns herauf, und wir konnten uns folgende Geschichte zusammenreimen: Der Bauer hatte etwas Ungewöhnliches auf seiner Weide bemerkt und war hinausgeeilt. Er entdeckte einen kahlköpfigen Mann, der auf den Knien lag und die Arme liebevoll um die Vorderbeine seiner besten Kuh geschlungen hatte. Ein dicker Mann, der eine Urne trug, weinte sich die Augen aus. Als er den Bauern entdeckte, lief er zu ihm und schluchzte
Weitere Kostenlose Bücher