Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
ihren sengenden Strahlen zu schützen. Geizhals Shen fürchtete, wir könnten schlecht von Lotuswolke denken, weil sie einen so alten und häßlichen Mann nicht abgewiesen hatte, und er bat darum, uns seine Geschichte erzählen zu dürfen.
»Vor vielen vielen Jahren war ich ein glücklicher Mann«, begann er scheu und leise. »Ich war ein Bauer, und ich war arm, aber ich hatte ein kleines Stück Land, eine Frau, die mich liebte, und das entzückendste Töchterchen der Welt. Meist gab es genug zu essen, und ich dachte nicht im Traum daran, mehr zu verlangen. Dann brachen schwere Zeiten über unser Dorf herein. Der Regen blieb aus, oder es regnete so heftig, daß unsere Dämme brachen, und die Ernte verdarb. Die Tiere wurden krank, Räuber drangsalierten uns und stahlen uns den Reis. Eines Tages erfuhren wir, daß der Herzog von Ch'in, der Vater des derzeitigen Herzogs, die Steuern verdoppelt hatte. Wir konnten unmöglich soviel Steuern zahlen. Unter den Männern des Dorfes traf mich Unglücklichen das Los, zum Herzog zu gehen und um Gnade zu flehen.
Im Palast warteten viele Bauern, die den Herzog um niedrigere Steuern bitten wollten, und so blieben mir lange Stunden, um meine Rede zu üben. Als die Reihe an mir war, fiel ich vor dem Thron auf die Knie und berichtete dem Herzog von all dem Elend und Leid, das mein Dorf erdulden mußte. Ich weiß, ich habe meine Geschichte gut erzählt. Als ich geendet hatte, hob ich die Augen zu der schrecklichen Tigermaske. Die metallische Stimme erschreckte mich, aber die Worte erfüllten mein Herz mit Freude.
Shen Chunlieh, sagte der Herzog, ich habe heute viele Geschichten von Männern gehört, die mich betrügen möchten, aber deine Geschichte klingt wahr. Ich bin überzeugt, daß ihr meine Steuern nicht bezahlen könnt, und ich werde euch eine besondere Gunst gewähren. Geh zurück in dein Dorf, sage deiner Familie und deinen Freunden, daß das Dorf Shen Chunlie den Herzögen von Ch'in nie mehr Steuern zahlen muß, solange die Sterne am Himmel leuchten und die Fische im Meer schwimmen.
Ich küßte den Boden, verließ unter vielen Verbeugungen rückwärts den Thronsaal, und an meinen Füßen schienen Flügel zu wachsen, während ich über die Hügel in mein Dorf zurückrannte. Ich konnte jedoch nicht so schnell laufen, wie seine Soldaten reiten, und als ich den letzten Hügel erreichte, starrte ich auf rauchende Trümmer. Der Herzog hatte geschworen, wir würden nie wieder Steuern bezahlen und ließ dann das Dorf als warnendes Beispiel für die anderen zerstören. Am Leben geblieben waren nur die wenigen Bewohner, die an einem nahe gelegenen See gefischt hatten. Darunter befand sich auch meine Frau. Wir lagen uns weinend in den Armen, aber Ihr erinnert Euch sicher an meine kleine Tochter. Sie hieß Ah Chen, und ich liebte sie mehr als alles auf der Welt. Sie war im Dorf gewesen und mit den anderen umgebracht worden.
Ich war außer mir vor Trauer. Überall sah ich das Gesicht meines kleinen Mädchens, und nachts hörte ich sie im Wald weinen. Dann rannte ich hinaus und rief: Ah Chen, dein Vater ist hier! Die Leute sagten, es würde mir besser gehen, wenn ich ihr ein Gebet schickte. Ich konnte nicht lesen und nicht schreiben, also ging ich zu einem Priester, der mein Gebet niederschrieb, es verbrannte und zur Hölle schickte, wohin mein kleines Mädchen gewandert war, um gerichtet zu werden. Aber es ging mir nicht besser. Ich konnte weder arbeiten noch schlafen; eines Tages erzählte mir ein Reisender von einem großen Zauberer, der hoch oben in den Omeibergen am Ende des Bärenpfades in einer Höhle lebte. Man nennt ihn den Alten Vom Berge, sagte mir der Reisende. Er ist der weiseste Mann der Welt, und ganz bestimmt kann er dein Töchterchen wieder ins Leben zurückrufen. Aber du mußt ihm Geld bringen, sehr viel Geld, denn der Alte Vom Berge verkauft seine Geheimnisse nicht billig. Ich besaß kein Geld. Also machte ich mich daran, mir Geld zu beschaffen. Wie jeder, der darangeht, sich Geld zu beschaffen, log und betrog ich und stürzte meine Freunde ins Unglück. Aber ich hatte nur einen Gedanken. Ich mußte mir Geld beschaffen, um die kleine Ah Chen ins Leben zurückholen zu können. Lieber Mann, du mußt unsere Tochter vergessene beschwor mich meine Frau. Wenn du so weitermachst, wirst du bestimmt noch verrückt. Dann wurde sie krank, doch ich hatte nur Geld im Sinn und nahm mir nicht die Zeit, sie zu pflegen. Meine Frau starb, und ich weinte, hörte aber nicht auf, meinen
Weitere Kostenlose Bücher