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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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noch eine Weile an seiner Schulter. Als er sich schließlich etwas beruhigt hatte, erzählte er eine wunderbare Geschichte.
    Die geliebte Mutter des kahlköpfigen Mannes war vor einiger Zeit gestorben, und der Sohn hatte ihr die ungewöhnliche Bitte, verbrannt zu werden, erfüllt. Eines Nachts erschien ihm der Geist der Mutter im Traum und äußerte den Wunsch, die Urne mit der Asche bei den Lohans in Lung-men beizusetzen. Also hatten der Kahlköpfige und sein guter Freund sich mit der Urne auf die fromme Pilgerfahrt gemacht; sie mußten jedoch bald entdecken, daß der Geist etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Die Straße nach Lung-men führte an der Weide des Bauern vorbei, und dort hatte die Kuh auf sie gewartet. Der Kahlköpfige hatte die sanften braunen Augen sofort wiedererkannt.
    »Mutter!« schrie er außer sich, »meine geliebte Mutter ist als Kuh wiedergeboren worden!«
    Die Wiederbegegnung war herzbewegend, und der Bauer mußte beim Zusehen selbst ein paar Tränen vergießen. Freudentränen quollen aus den Augen der Kuh, während sie liebevoll den kahlen Kopf des Mannes leckte. »Mutter! Welch eine Freude, dich wiederzusehen!« schluchzte er und küßte die haarigen Beine. Welche Wahl blieb dem Bauern? Er empfand die herzerwärmende Freude über eine gute Tat, während er zusah, wie seine Kuh, der die beiden Herren die Arme um den Hals geschlungen hatten, in der Ferne verschwand. Er war ein reicher Mann, der den Bauern nur zum Zeitvertreib spielte, und es hatte ihn sehr überrascht zu erfahren, daß Kühe immer Tränen vergießen, wenn sie Salz lecken. »Und dazu gehört auch Salz, das auf eine Glatze gestreut wurde!« schrie der naive Bauer.
    »Ihr wagt es, uns als Betrüger hinzustellen?« tobte Pfandleiher Fang. »Wir gehen vor Gericht!« schrie Ma die Made.
    Als der Bauer die Verfolgung aufnahm, schlössen sich ihm Nachbarn an, die ebenfalls den Listen von Ma und Fang zum Opfer gefallen waren. Nun verlangten die aufgebrachten Leute vom Gouverneur, die Gauner am höchsten Baum aufzuknüpfen. »Lügen, alles Lügen!« schrie Pfandleiher Fang. »Wir fordern Schadenersatz wegen Verleumdung!« tobte Ma die Made. »Ochse, du kennst diese Kreaturen gut. Was werden sie als nächstes tun?« fragte Meister Li.
    »Zum Angriff übergehen«, erwiderte ich mit Überzeugung, »ich weiß zwar nicht wie, aber sie werden es schaffen.«
    »Großartig. Gehen wir, meine Herren.«
    An der Fahnenstange auf der Turmspitze flatterte das riesige Seidenbanner mit dem Tigerwappen des Herzogs. Die Soldaten interessierten sich zu sehr für Ma und Fang und die mordlüsterne Menge, um etwas zu merken, als ich das Banner abschnitt und einholte. Die Überreste eines alten Taubenschlags aus Bambus verwandelten wir in einen Korb, und mit Hilfe der Leine vom Fahnenmast befestigten wir das Banner am Korb.
    »Es funktioniert nach dem Prinzip eines fallenden Blattes, das sanft vom Baum zur Erde schwebt, denn die Luft, die gegen die Unterseite drückt, gleicht beinahe sein Gewicht aus, das es zur Erde zieht«, erklärte Meister Li. »Die Fahne ist möglicherweise gerade groß genug, um genügend Luft zu halten, obwohl mir ein hundert Fuß höherer Turm lieber wäre.«
    Vorsichtig schlichen wir zur anderen Seite des Turms, um nachzusehen, wie es Ma und Fang inzwischen erging. Bienen summten an der Mauer, und Ma die Made entdeckte überrascht eine Honigspur. Verstohlen fuhr er mit den Fingern über den Honig. Unser Stachelschweinkaufmann hatte einen Teller voll Süßigkeiten mit herausgebracht und steckte sie sich geistesabwesend in den offenen Mund, während er den Wortführern der Menge lauschte, die eine Anschuldigung nach der anderen hervorbrachten. Ma die Made ließ geschickt etwas Honig auf die Asche in der Urne tropfen und hielt die Urne unter die dicken Finger des Kaufmanns, dessen Hand sich immer wieder zu dem unersättlichen Schlund hob...
    »Ungeheuer!« schrie Ma, von Grauen geschüttelt. »Fang, sieh dir an, was diese Teufel tun! Zuerst versuchen sie, die Inkarnation deiner geliebten Mutter zu stehlen, und jetzt verschlingen sie ihre Asche!«
    »Kannibalen!« schrie Pfandleiher Fang. Er riß den Mund des Kaufmanns weit auf und spähte in die schwarze Öffnung. »Mutter, sprich zu mir!« jammerte er.
    Ein völliges Durcheinander entstand, und die Soldaten im Hof umringten die tobende Menge. Wir schleppten die Fahne und den Korb auf die andere Seite des Dachs, kletterten in den Korb, und ich griff nach den Leinen.
    »Ich habe

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