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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Ginsengduft trieb mir die Tränen in die Augen, und ich drehte das Kästchen um. Etwas fiel zu Boden.
    Li Kao kniete nieder und betrachtete eingehend eine kleine Kristallkugel von der Größe der Miniaturflöte.
    »Geizhals Shen, ich rate, setzt Euch und macht Euch auf etwas Ungewöhnliches gefaßt«, sagte er düster. Dann spuckte er in die Hand, griff nach der Kristallkugel und rieb vorsichtig die Oberfläche.
    Die Kugel erglühte in einem seltsamen inneren Licht. Dann wurde sie größer. Sie wuchs, bis sie einen Durchmesser von mehreren Fuß hatte. Das innere Licht wurde heller und heller; Ausrufe des Erstaunens entrangen sich uns, als ein Bild auftauchte, und wir Geräusche hörten.
    Wir blickten in das Innere eines hübschen Häuschens, wo eine alte Frau auf einem Schemel eingenickt war. Wir hörten ihr friedliches Schnarchen; wir hörten die Geräusche von Hühnern und Schweinen und das sanfte Murmeln eines Baches. Vögel zwitscherten, Bienen summten einschläfernd, und vor dem Fenster raschelten die vom Sonnenlicht gesprenkelten Blätter eines Baums. Eine Ameise eilte mit einer Brotkrume über den Fußboden. Sofort wurde eine Schabe aufmerksam und rannte hinter der Ameise her. Eine Ratte streckte den Kopf aus einem Loch und sprang hinter der Schabe her. Eine Katze verfolgte die Ratte. Dann erschien ein Hund in der Tür und schoß hinter der Katze her. Der Zug erreichte den Schemel der alten Frau und stürzte ihn um. Die Frau setzte sich auf und rieb sich verdutzt die Augen, begann schrecklich zu schimpfen, griff nach einem Besen und verfolgte wütend den Hund, der die Katze jagte, die die Ratte jagte, die die Schabe jagte, die die Ameise jagte, die die Brotkrume schleppte.
    Es läßt sich nur schwer beschreiben, aber die Szene, die sich vor unseren Augen abspielte, war unglaublich komisch. Sie liefen herum und herum, stürmten durch die Tür, kletterten durch das Fenster wieder herein, brachen durch die dünnen Wände, tauchten durch ein Loch in der Decke wieder auf und zerschlugen die Einrichtung in tausend Stücke. Die Variationen schienen endlos zu sein und so einfallsreich, daß Geizhals Shen und ich uns vor Lachen bogen. Einmal traf der Besen der alten Frau die irdenen Töpfe und Schüsseln, die alle durch die Luft flogen und klirrend zusammenprallten. Die Scherben fielen auf den Boden, und ein Stück landete auf dem anderen. Es entstand eine prächtige Statue des Heiligen und Verehrungswürdigen Weisen der Heiteren Gelassenheit. Die wilde Jagd stürmte hinaus und durchquerte spritzend und platschend einen Teich. Als sie durch eine halbzerstörte Mauer zurückraste, hockte auf dem Kopf der alten Frau ein riesiger Ochsenfrosch und quakte empört.
    Geizhals Shen und ich hätten uns totgelacht, wenn Li Kao nicht die Hand ausgestreckt und die Kristallkugel berührt hätte. Das Glühen wurde schwächer. Die Geräusche verstummten, und das Bild verschwand. Die Kugel schrumpfte zu ihrer vorigen Größe. »Shen, habt Ihr jemals so etwas gesehen?« fragte Meister Li, als Geizhals Shen sich soweit erholt hatte, daß er wieder atmen konnte.
    Geizhals Shen kratzte sich am Kopf und antwortete: »Ich bin nicht sicher. Bestimmt habe ich nie etwas Ähnliches wie diese unglaubliche Szene gesehen. Doch auf einem alten Gemälde ist mir einmal eine winzige Kristallkugel aufgefallen, die aussah wie diese hier. Das Bild hängt in der Höhle der Glocken. Ein alter lahmer Hausierer steht mit dem Rücken zum Betrachter vor drei jungen Damen, die nach einer längst vergangenen Mode gekleidet sind. In einer Hand hält er drei Federn...«
    »Federn?« stieß Meister Li atemlos hervor, »im alten Stil gekleidete Mädchen?«
    »Ah... ja«, sagte Geizhals Shen, »in der anderen Hand hält er eine Kugel, die der hier ähnelt, ein Glöckchen und eine winzige Flöte.« Li Kao brummte zufrieden und klappte eine der künstlichen Muscheln an seinem Gürtel auf. »Wie diese?«
    »Genau wie diese«, erwiderte Geizhals Shen, als er die winzige Blechflöte genauer betrachtete, »viel mehr weiß ich über dieses Gemälde nicht, außer, daß man sagt, es sei sehr geheimnisvoll, und der alte lahme Hausierer sei göttlicher Herkunft. Die Höhle der Glocken ist ihm geweiht, und der Schrein wird von einem kleinen Mönchsorden betreut.«
    Li Kao legte die Flöte wieder zurück in die Muschelschale und verstaute die Kristallkugel und die Arme der Großen Wurzel der Macht ebenfalls in seinem Schmugglergürtel.
    »Schlafen wir. Morgen früh finden wir

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