Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
bis wir hinter den Kletterpflanzen verborgen waren. Li Kao begann mit dem Messer am Stein zu kratzen... ein unangenehmes Geräusch. Eine Weile hörten wir nur das Klicken der Kugeln, die schnell über die Stäbe des Abakus glitten, doch dann wurde der Tisch zurückgeschoben, und schwere Schritte näherten sich dem Fenster. Ich hielt den Atem an.
Die schreckliche Tigermaske beugte sich aus dem Fenster und spähte nach unten. Der Diamant leuchtete wie kaltes Feuer. Die Finger kreisten darüber wie ein Falke und stießen dann zu. Ich konnte die Einstiche der Dornen sehen. Vorsichtig geschätzt, hatte der Herzog von Ch'in genug Elixier des Lebens im Blut, um ganz China, halb Korea und Japan dazu zu vergiften. Ich erwartete, er würde auf den Rücken fallen und blau werden. Statt dessen hob er den Diamanten an die Augenschlitze der Maske, drehte ihn bewundernd hin und her. Die metallene Stimme, die durch das Mundstück drang, klang eindeutig vergnügt:
»Kalt!« flüsterte der Herzog von Ch'in, »kalt... kalt... kalt...« Ich war so verdutzt, daß ich vergaß, mich an den Ranken festzuhalten, und wir stürzten vierzig Fuß in die Tiefe, ehe es mir gelang, sie wieder zu packen und unseren Fall aufzuhalten. Unglücklicherweise baumelten wir jedoch zehn Fuß über den Köpfen von Soldaten, die an der Mauer lehnten und sich gegenseitig Lügengeschichten über den Krieg auftischten. »Warte auf eine Wolke«, flüsterte Meister Li.
Es schien Ewigkeiten zu dauern, doch endlich schob sich eine schwarze Wolke vor den Mond. Ich schwang mich an den Ranken zum nächsten Fenster und kletterte in ein pechschwarzes Zimmer. Die Dunkelheit erzitterte unter dröhnendem Schnarchen. Li Kao glitt von meinem Rücken, ging auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Hastig schloß er sie wieder. »In den Gängen stehen Wachen«, flüsterte er.
Wir wollten uns wieder zum Fenster zurückziehen, blieben jedoch wie angewurzelt stehen. Die verwünschte Wolke hatte gerade beschlossen, weiterzuziehen. Der Mond nagelte uns mit leuchtend gelben Strahlen fest. Das Schnarchen verstummte plötzlich. Eine unförmige Gestalt setzte sich im Bett auf, und ein wulstiger, brandiger Finger richtete sich auf uns.
»Was habt ihr mit der Ginsengwurzel gemacht?« brüllte die Ahne.
24.
Es gibt keine Zufälle auf dem Großen Weg des Tao
Soldaten schleppten mich über den Boden zum Thron, auf dem der Herzog von Ch'in saß. Dann richteten sie mich auf, daß mein Gesicht die entsetzliche Maske beinahe berührte. Ein Zischen drang aus dem Mundstück, während sein klebriger Geist sich über meinen legte. Plötzlich fuhr der goldene Tiger heftig zurück.
Der große und mächtige Herzog von Ch'in fürchtete sich entsetzlich. Aus dem Mundstück tropfte der Speichel, die goldenen Kettenhandschuhe auf den Armlehnen zitterten, und der durchdringende Geruch der Angst stieg mir in die Nase.
»Ich sehe die drei Zofen«, flüsterte die metallische Stimme, »ich sehe den Ball, die Kugel und die Flöte! Ich sehe die Beine, die Arme und den Kopf der Macht!«
Der Herzog zitterte so heftig, daß der Federumhang flatterte, als wolle er fliegen. Schließlich zwang er sich dazu, sich noch einmal vorzubeugen. Die schleimigen Gehirnwindungen legten sich furchtsam um die meinen. Ich spürte Erleichterung und wachsende Freude. »Aber ich sehe weder die Vögel noch die Federn noch irgend etwas anderes von Bedeutung«, sagte er verwundert, »ich sehe nur diese nutzlosen Kinder und die richtige Suche aus dem falschen Grund. Du und dein verknöcherter Begleiter, ihr seid Wege gegangen, die man nicht gehen kann, habt Wächter besiegt, die man nicht besiegen kann, seid von Orten geflohen, von denen die Flucht unmöglich war, und ihr hattet nicht die leiseste Ahnung, was ihr eigentlich getan habt, oder wohin ihr eigentlich gegangen seid und weshalb!« Jetzt verriet die metallische Stimme ein grausam hämisches Vergnügen.
»Es ist euch gelungen, mich zu ärgern. Und ihr sollt entdecken, was es heißt, den Herzog von Ch'in zu ärgern.« Die Maske wandte sich den Soldaten zu. »Bringt den Alten und den Jungen in die Folterkammer. Sie sollen langsam in den Eisenhemden sterben«, befahl er. Nur der Herzog konnte eine solche Hinrichtung anordnen, und ich beeile mich darauf hinzuweisen, daß die Eisenhemden in allen anderen Teilen Chinas seit langem in die Museen verbannt waren, in denen man die abscheulichen Entgleisungen des Mittelalters zur Schau stellt. Diese Hemden
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