Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
windschief auf einem Hügel stand. »Nur völlig Verrückte wagen es, den Weg zu seinem Haus der Schrecken hinaufzugehen, und nur wenige kehren zurück!«
Er bedankte sich für die Warnung und eilte den Weg hinauf. »Mit größter Wahrscheinlichkeit ist das üble Nachrede«, bemerkte Meister Li gelassen, »Ochse, Taoisten lassen sich von einer merkwürdigen Mischung Mystizismus leiten. Einerseits verehren sie Weise wie Chunang Tzu, der lehrte, daß Tod und Leben, Ende und Anfang nichts Beunruhigenderes sind als der Übergang von der Nacht zum Tag, andererseits suchen sie fieberhaft den Weg zur persönlichen Unsterblichkeit. Wenn sich ein wissenschaftliches Genie mit dem mystischen Unsinn beschäftigt, ist das Ergebnis mit größter Wahrscheinlichkeit ein Irrer, der auf der Suche nach dem ewigen Leben alles umbringt, was ihm über den Weg läuft. Aber solche bedauernswerten Leute würden bewußt keiner Fliege was zuleide tun. Außerdem«, fügte er hinzu, »ist es ein idealer Tag für einen Besuch im Haus der Schrecken.«
Darin konnte ich ihm nur zustimmen. Auf dem Friedhof ächzten die Bäume im Wind, und es klang wie die Wehklagen von Trauernden. Hinter dem Schlachthaus heulte schauerlich ein Hund. Dunkle Wolken murmelten schwarze Bannsprüche über die Berge; schweflige Blitze zuckten über den Himmel, und das baufällige Haus auf dem Hügel knarrte und stöhnte im aufziehenden Sturm, der einen leichten, weinenden Regen vor sich hertrieb. Wir traten durch die offene Tür in ein Zimmer, in dem überall Leichen lagen. Ein kleiner alter Mann mit einem blutigen Bart versuchte, einem Toten ein Schweineherz einzusetzen. Kessel brodelten, Töpfe kochten und aus Phiolen stiegen grüne und gelbe Dämpfe auf. Doktor Tod bestreute das Herz mit rotem Puder und vollführte mit den Händen beschwörende Gesten. »Schlag!« befahl er. Nichts geschah. Er nahm gelben Puder. »Schlag, schlag, schlag!« Er griff zu blauem Puder. »Zehntausend Flüche über dich! Warum schlägst du nicht?!« schrie er und drehte sich dann nach uns um. »Wer seid Ihr?« fragte Doktor Tod.
»Ich heiße Li, mein Vorname ist Kao, und ich habe einen kleinen Charakterfehler. Das ist mein geschätzter Klient, Nummer Zehn der Ochse«, sagte Meister Li mit einer höflichen Verbeugung. »Ich heiße Lo, mein Vorname ist Chan, und ich verliere zunehmend die Geduld mit einer Leiche, die sich hartnäckig weigert, wieder zum Leben erweckt zu werden!« schrie Doktor Tod außer sich. Dann wurde sein Gesicht weicher, seine Stimme leiser, bis er schließlich so sanft aussah wie eine Schneeflocke und so unschuldig wie eine Banane. »Wenn ich keine eigensinnige Leiche zum Leben erwecken kann, wie kann ich da hoffen, meine geliebte Frau wieder zum Leben zu erwecken?« klagte er leise.
Er ging zu einem Sarg, der als Schrein in einer Ecke stand. Die Tränen rannen ihm über die Wangen.
»Sie war nicht hübsch, aber sie war die beste Frau der Welt«, flüsterte er, »sie hieß Chiang-chao, und wir waren sehr arm. Aber aus einer Handvoll Reis und Kräutern, die sie im Wald sammelte, konnte sie die köstlichsten Gerichte zubereiten. Sie sang schöne Lieder, um mich aufzumuntern, wenn ich niedergeschlagen war, und sie nähte Kleider für reiche Damen, um mir zu helfen, meine Studien zu bezahlen. Wir waren sehr glücklich zusammen, und ich weiß, daß wir auch wieder glücklich zusammen sein werden. Keine Sorge, meine liebe Frau, ich hole dich im Handumdrehen aus diesem Sarg heraus!«
Er drehte sich wieder nach uns um.
»Ich muß nur noch die wirklich reinen Zutaten finden«, erklärte er, »denn ein unfehlbares Rezept besitze ich bereits. Man nimmt zehn Pfund Pfirsichflaum...«
»Zehn Pfund Schildkrötenhaare«, sagte Meister Li. »Zehn Pfund Pflaumenhäute...«
»Zehn Pfund Hasenkrallen...«
»Zehn Pfund Stimmbänder von lebenden Hühnern...«
»Einen großen Löffel Quecksilber...«
»Einen großen Löffel Oleandersaft...«
»Zwei große Löffel voll Arsenpulver...«
»Denn das Gift produziert das Gegengift...«
»Und im Tod ist Leben, so wie im Leben Tod ist.«
»Ein Kollege!« rief Doktor Tod glücklich, und er schloß Li Kao in die blutigen Arme. »Sagt mir, Verehrungswürdiger, kennt Ihr eine bessere Methode? Diese hier muß früher oder später zum Erfolg führen. Aber es ist schon so viel Zeit vergangen, und ich fürchte, meine liebe Frau wird in dem Sarg langsam ungeduldig.«
»Leider kenne ich nur das klassische Rezept«, seufzte Meister Li, »mein
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