Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Spezialgebiet ist das Elixier des Lebens. Aber dummerweise habe ich keinen ausreichend großen Vorrat von zu Hause mitgenommen. Deshalb komme ich zu Euch.«
»Das trifft sich gut! Ich habe gerade Frisches im Schrank.« Doktor Tod suchte in einer Schublade, holte eine schmierige Phiole zum Vorschein, die mit einer dicklichen Flüssigkeit gefüllt war. »Einen Löffel nach jeder Mahlzeit, zwei vor dem Zubettgehen, und Ihr werdet mit Sicherheit ewig leben«, beteuerte er. »Einem Kollegen brauche ich wohl kaum zu sagen, daß das Elixier des Lebens gelegentlich unerfreuliche Nebenwirkungen haben kann. Am besten probiert man es zuerst an einer Ratte aus.«
»Oder an einer Katze«, sagte Meister Li. »Oder an einer Krähe.«
»Oder an einer Kuh.«
»Und falls zufälligerweise ein überflüssiges Flußpferd zur Hand ist...«
»Eigentlich hatte ich vor, es an einem Elefanten auszuprobieren«, sagte Meister Li.
»Ein weiser Entschluß«, stimmte Doktor Tod zu. »Eine kleine Spende«, sagte Meister Li und häufte Goldstücke zwischen Lymphdrüsen und Lungen auf den Tisch. »Darf ich Euch raten, einen professionellen Grabräuber zu beschäftigen? Mitunter ist es schrecklich anstrengend, Leichen auszugraben.« Doktor Tod betrachtete die Goldmünzen mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Er sprach so leise, daß ich ihn kaum verstand.
»Es war einmal ein armer Gelehrter, der Bücher kaufen mußte. Aber er hatte kein Geld«, flüsterte er, »er verkaufte alles, was er besaß, um ein winziges Goldstück zu erwerben, das er im hohlen Griff eines Alchemistenlöffels verbarg. Dann ging er zum Haus eines reichen Mannes und behauptete, Blei in Gold verwandeln zu können. Der reiche Mann gab ihm Geld, damit er lernen könne, wie man große Bleiklumpen in Gold verwandelte. Der Gelehrte eilte glücklich in die Stadt, um die Bücher zu kaufen, die er brauchte. Bei seiner Rückkehr entdeckte er, daß Diebe bei ihm eingebrochen hatten. Ihnen war zu Ohren gekommen, er könne Gold machen. Deshalb hatten sie seine Frau gefoltert, damit sie ihnen verriet, wo er es versteckt habe. Die Frau lag in den letzten Zügen. Er hielt sie in den Armen und weinte. Sie sah ihn an und erkannte ihn nicht. Aber Ihr Herren«, flüsterte sie, Ihr wollt mich doch sicher nicht umbringen? Mein Mann ist ein großer Gelehrter und ein lieber, herzensguter, freundlicher Mann. Aber er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert. Was soll er tun, wenn ich nicht mehr da bin?« Dann starb sie.«
Doktor Tod drehte sich nach dem Sarg um und schrie: »Keine Sorge, meine liebe Frau! jetzt kann ich es mir leisten, Leichen von besserer Qualität zu kaufen und...« Er schlug die Hand vor den Mund. »O je!« seufzte er und eilte zu der Leiche auf dem Tisch.
»Ich wollte Euch nicht beleidigen«, sagte er zerknirscht, »ich bin sicher, daß Ihr Euch hervorragend eignet. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Ihr wüßtet, wie wichtig es ist. Versteht Ihr, meine Frau war nicht hübsch, aber sie war die beste Frau der Welt. Sie hieß Chiang-chao, und wir waren sehr arm, aber aus einer Handvoll Reis und Kräutern aus dem Wald...«
Er hatte uns vergessen. Wir schlichen uns auf Zehenspitzen hinaus und gingen im strömenden Regen den Hügel hinunter. Li Kao hatte es ernst gemeint, als er sagte, er beabsichtige das Elixier des Lebens an einem Elefanten zu erproben. Am Fuß des Hügels stand ein bedauernswertes altes Tier, das Baumstämme zum Sägewerk schleppen mußte. Sein Herr behandelte den Elefanten nicht sehr gut. An den Schultern verrieten offene Wunden, wie grausam man ihn mit dem Stachel antrieb. Und er war völlig abgezehrt. Wir stiegen über den Zaun, und Li Kao träufelte einen einzigen Tropfen des Elixiers auf die Klinge seines Messers.
»Bist du einverstanden?« fragte er freundlich.
Die leidenden Augen des Elefanten waren beredter als Worte - um der Liebe Buddhas willen befreie mich aus diesem Elend, damit ich wieder auf das Große Rad der Wandlungen steigen kann. »So sei es«, sagte Meister Li.
Er preßte die Klinge sanft gegen eine offene Wunde. Der Elefant schien einen Augenblick überrascht zu sein. Dann bekam er einen Schluckauf, sprang hoch in die Luft und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Rücken, wurde blau und gab friedlich den Geist auf.
Wir hoben voll Verehrung die Augen zum Haus der Schrecken. »Ein Genie!« riefen wir, und dann weinte der leise Regen. Der kalte Wind trug den Gesang einer alten, krächzenden, verrückten Stimme zu uns
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