Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
bestehen überhaupt nicht aus Eisen, sondern aus einem Stahlgewebe, das mit Hilfe einer Schlinge im Genick oder einer Schraube am Rücken gleichmäßig zusammengezogen werden kann. Das netzartige Hemd wird ganz eng um den nackten Oberkörper des Opfers gespannt, bis das Fleisch durch die Maschen quillt. Dann schabt der Henker mit etwas Rauhem und Hartem - vielleicht einem Stein - langsam über das Hemd, bis nichts mehr vorsteht. Das Blut wird sorgfältig gestillt, und am nächsten Tag wird das Gewebe leicht verschoben und die Prozedur wiederholt -und dann auch am nächsten Tag und am übernächsten Tag. Ein Henker, der sein Handwerk versteht, kann sein Opfer monatelang am Leben erhalten. Die einzige Hoffnung des Verurteilten besteht darin, daß er gleich zu Anfang des Spiels wahnsinnig wird. Man hatte Li Kao und mich in so viele Ketten gewickelt, daß wir keinen Finger rühren konnten. Die Soldaten stöhnten und ächzten unter dem Gewicht, als sie uns eine scheinbar endlos lange Steintreppe hinuntertrugen. Ich zählte elf Treppenabsätze, auf denen immer mehr Wachen standen. Die Luft wurde stickiger und stank. Von den schwarzen Steinwänden tropfte schleimig-grünes Wasser. Schließlich erreichten wir die am tiefsten gelegenen Kerker. Messingbeschlagene Tore flogen krachen auf, und die keuchenden Soldaten trugen uns in eine Folterkammer, deren einziger Schmuck Blut und Eingeweide waren. Der Henker nahm unsere Ankunft keineswegs freundlich auf. Er war ein dicker Bursche mit einem kahlen, grauen Kopf, einer leuchtend roten Nase, vier gelben Zähnen, und er hatte Grund zur Klage.
»Arbeit... Arbeit... Arbeit!« schimpfte er, während er sich mit einem Meßband an uns zu schaffen machte. »Wißt ihr, daß jedes Eisenhemd eigens für das Opfer angefertigt werden muß? Wißt ihr, daß es zwei Tage dauert, um ein ordentliches Eisenhemd herzustellen? Wißt ihr, daß der Herzog mir befohlen hat, eure Hemden in zwei Stunden fertig zu haben? Und dann soll ich euch gleich zum ersten Mal schaben. Und wißt ihr, daß das noch einmal zwei Stunden dauert, wenn man das ordentlich macht?« Er trat zurück und wies aufgebracht mit dem Finger auf uns. »Seht euch diese Ketten an!« schimpfte er, »wißt ihr, daß es zwei Stunden dauert, diese Dinger aufzuschließen, abzuwickeln, aufzuwickeln und wieder zu verschließen? Und wißt ihr, daß die Ahne mir befohlen hat, einen anderen Gefangenen zu strecken und zu vierteilen? Und wißt ihr, daß Strecken und Vierteilen wiederum zwei Stunden beansprucht, wenn man es ordentlich macht? Wann soll ich mich denn einmal ausruhen, frage ich euch? Hat denn kein Mensch mehr Erbarmen? Sorgt sich denn niemand um mein Wohlergehen?«
Er war nicht der einzige mit einem Grund zur Klage. »Und was ist mit uns?« schrien die Soldaten, »wir müssen in diesem ekelhaften Loch Wache stehen, bis die Gefangenen tot sind. Und wenn du deine Arbeit auch nur halbwegs gut machst, wird das Monate dauern! Und dieses Schwein von einem Feldwebel hat sich geweigert, uns Ohrenpfropfen zu bewilligen. Innerhalb einer Woche sind wir von dem Geschrei stocktaub! Seht euch diese Schaben an! Seht euch diese Blutegel an! Seht euch dieses schleimige Wasser an, das von den Wänden tropft! Wir holen uns todsicher das Fieber hier unten! Und selbst wenn wir lebend zu unseren Frauen zurückkehren, was nützt uns das noch? Der Herzog hat befohlen, diese armen Hunde in so viel Ketten zu wickeln, daß sie sich nicht rühren können. Wir haben sie elf Treppen heruntergetragen und uns dabei vierfache Brüche gehoben, die Eunuchen aus uns allen machen!« Es schien ein Tag der Klagen zu sein!
»Hu!« jammerte es, während jemand die Treppe heruntertrippelte. »Hu! Hu! Huuuu!« jammerte der Schlüsselhase, als er in die Folterkammer eilte. »Der Herzog hat mir befohlen, bei der Folterung meines besten Freundes und des großzügigsten Beschützers, den meine Frau jemals hatte, teilzunehmen und einen genauen Bericht ihrer Leiden zu erstellen. Guten Abend, Lord Li von Kao! Guten Abend, Lord Lu von Yu. Es freut mich, Euch wiederzusehen. Aber wie kann der Herzog mir das antun?«
Der Kleine warf sich in eine dramatische Pose. Er legte einen Arm über die Stirn und streckte den anderen aus.
»In Metzgereien wird mir speiübel!« jammerte er, »ich werde ohnmächtig, wenn ich mir in den Finger schneide. Blutrote Sonnenuntergänge bringen mich dazu, unter das Bett zu kriechen! Bluthunde lösen Schreikrämpfe bei mir aus! Einmal habe ich mich über
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