Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
einen hohen Würdenträger erbrochen, der mich mit seinem Blutsbruder bekannt machte! Bei einem Staatsbankett habe ich mich peinlicherweise übergeben, als ich erfuhr, daß ich Blutpudding aß! Und jetzt muß ich Zeuge der blutigsten Hinrichtung sein, die ein Mensch erfunden hat! Hu!« jammerte der Schlüsselhase. »Hu! Hu! Huuuu!«
»Verdammt noch mal, geh aus dem Weg und stör mich nicht bei der Arbeit«, schimpfte der Henker.
Er begann wütend und wie rasend auf schmale Streifen von Stahlgewebe einzuhämmern. Die Soldaten trugen uns ächzend und keuchend in den daneben liegenden Kerker und warfen uns dort auf den Boden. Sie stolperten, ihre Brüche haltend, hinaus, schlugen die Tür zu, und wir starrten verblüfft den Mann an, der gestreckt und gevierteilt werden sollte. Er war mit einer Kette um den Fuß an die Wand gefesselt und aß eine Schüssel Reis. »Was macht Ihr denn hier?« fragte Meister Li.
»Im Augenblick esse ich meine Henkersmahlzeit«, erwiderte Hahnrei Ho, »guten Abend, Li Kao! Guten Abend, Nummer Zehn der Ochse! Es ist mir ein großes Vergnügen, Euch wiederzusehen, obwohl man die Umstände eher bedauern muß. Darf ich Euch etwas von dem Reis anbieten? Sie haben mir sogar einen Krug Wein gegeben. Das ist doch sehr anständig von ihnen, findet Ihr nicht auch?«
»Wein... immer«, erwiderte Li Kao.
Hahnrei Hos Kette war gerade lang genug, daß er uns erreichen und Wein in die Kehlen gießen konnte. Man behandelte ihn wirklich zuvorkommend, denn es handelte sich um sehr teuren Wein - um Wu-Fan. Dieser Wein ist pechschwarz und so süß, daß er wie Sirup, gemischt mit Gravursäure, schmeckte.
»Hat man Euch wirklich zum Tod durch Strecken und Vierteilen verurteilt?« erkundigte ich mich.
»Es ist eine sehr traurige Geschichte.« Er seufzte. »Erinnert Ihr Euch, daß ich sechzehn Jahre lang versucht habe, Textfragmente auf Tontäfelchen zu entziffern?«
»Ein uraltes Ginsengmärchen«, bestätigte Meister Li. »Richtig! Und erinnert Ihr Euch, daß die Grabräuber eine große Tontafel ausgegraben hatten? Es stellte sich heraus, daß sie der Schlüssel zu dem Ganzen war. Ich konnte kaum glauben, wie schnell plötzlich alles zusammenpaßte. Die Geschichte, die sich ergab, war so interessant, daß ich kaum erwarten konnte herauszufinden, was als Nächstes kam. Eines Tages betrat ich meinen Arbeitsraum und entdeckte, daß alle Tonscherben verschwunden waren. Ich rannte klagend und weinend durch das Haus und raufte mir die Haare, bis meine geliebte Frau mir sagte, ich möge aufhören, einen Narren aus mir zu machen. Die Ahne hatte erklärt, es sei für einen erwachsenen Mann ein albernes Hobby, mit Tontäfelchen herumzuspielen. Deshalb hatte meine geliebte Frau den Dienstboten befohlen, die Scherben alle in den Fluß zu werfen, wo sie natürlich auf der Stelle zerfielen.«
»Ich hätte dem elenden Weib die Kehle durchgeschnitten«, knurrte Meister Li.
»Das hättet Ihr wirklich getan«, sagte Hahnrei Ho, »und ich habe viel an Euch gedacht«, sagte Hahnrei Ho, »Ihr hattet mir geraten, zum Beil zu greifen. Also stahl ich ein Beil und jagte damit hinter meiner lieben Frau her.«
»Habt Ihr sie erreicht?« fragte ich.
»Ich habe sie in Stücke gehackt und danach ihre sieben dicken Schwestern. Es war ein Genuß«, erzählte Hahnrei Ho, »dann kam ich hierher, weil ich versuchen wollte, die Ahne in Stücke zu hacken. Aber ihre Soldaten haben mich abgefangen. Nun ja, ich vermute, man kann nicht alles haben.«
»Ho, das habt Ihr großartig gemacht«, lobte Meister Li. »Findet Ihr wirklich? Manche Leute würden mich vielleicht für grobschlächtig halten«, sagte Hahnrei Ho zweifelnd, »ich war völlig außer mir, denn jetzt werde ich nie erfahren, wie die Geschichte endet. Sie handelte von zwei bezaubernden Gottheiten, von denen ich noch nie gehört hatte, obwohl ich den ganzen Götterhimmel kenne.« Li Kao kaute nachdenklich an ein paar seiner struppigen Barthaare, denn mehr Bewegungsfreiheit besaß er nicht.
»Ho, aus rein akademischer Neugier würde es mich interessieren, ob Euch je eine Gottheit begegnet ist, der Hausierer heißt. Er trägt ein Gewand mit himmlischen oder übernatürlichen Symbolen. Er stützt sich auf eine Krücke und hält eine Flöte, eine Kugel und eine Glocke in der Hand.«
»Der Hausierer ist keiner der sechshundert namentlich bekannten Götter. Aber unsere Kenntnis des Himmels ist lückenhaft«, sagte Ho nachdenklich, »man darf nicht vergessen, daß der erste Herzog
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