Meister Li und der Stein des Himmels
Böse von einer Blume abgewaschen. Jetzt
hatte die Blume die Tränen vergossen, die sie gesammelt hatte, um den Fehler
vom Stein abzuwaschen. Nicht die geringste Spur von ainem Riß oder von weichem
Gold war zu sehen. Der Stein war so massiv, wie ein Stein nur sein kann.
Meister Li drehte sich um,
hob den Kopf zum Himmel und füllte seine Lunge mit mächtigen Atemzügen. Ich
hielt mir die Ohren zu, aber trotzdem schmerzte mir das Trommelfell von den
hohen durchdringenden Adlerschreien aus der Kehle des alten Mannes. Ein Schrei
nach dem anderen stieg auf, stieß durch die roten Wolken hindurch, und das Echo
hallte von den Gipfeln wider.
Er fiel auf die Knie. Ich
folgte seinem Beispiel. »Es ist Li Kao«, sagte er schlicht. »Ich bitte um
Erlaubnis, die Göttin Nu Kua ansprechen zu dürfen .«
Wir knieten schweigend,
während Wolken den ganzen Himmel bedeckten. Vermutlich war es Einbildung, aber
ich begann, noch etwas zu spüren, das sich von Horizont zu Horizont erstreckte:
eine grenzenlose mütterliche Präsenz. »Göttin«, begann Meister Li höflich,
»verzeiht mir, wenn ich mit einer unwichtigeren Sache beginne. Aber ich habe einen
Eid geschworen. Die derzeitige Schutzherrin der Prostituierten ist unfähig und
eine Schande, und die Huren von China wünschen, daß sie abgelöst wird. Da die
große Goldene Lotusblüte wohl kaum zur Verfügung stehen dürfte, haben sie
Kaiserin Wu nominiert .« Schwefel lag in der Luft.
Donner grollte. »Nun ja, vielleicht ist es keine allzu gute Idee, eine solche
Frau frei herumlaufen zu
lassen«, räumte Meister Li hastig ein. »Man hat mich ermächtigt, einen Ersatz
zu wählen, und ich nominiere in aller Bescheidenheit Tou Wan, die Gemahlin des
Lachenden Prinzen. Es ist wahr, sie hat versucht, ihre Zofe zu ermorden, aber
ich habe noch keine richtige Dame getroffen, die nicht hin und wieder denselben
Wunsch verspürt hätte. Soweit mir bekannt ist, beteiligte sich Tou Wan nicht an
den Foltereien und Massakern ihres Gemahls, und was ihre Eignung angeht, so war
sie unmoralisch, wollüstig, verführerisch, geizig und mit einem Herzen aus
reinem Granit gesegnet. Sie war so zäh, wie ein Mensch nur sein kann, ohne daß
das Übernatürliche ins Spiel kommt. Sie war intelligent, ließ sich nichts
gefallen, und sie wäre sicher eine erstrangige Organisatorin. Eine bessere
Repräsentantin der Huren kann ich mir nicht vorstellen, und sollte es Ärger mit
ihr geben, muß man ihr nur einen kalten Trunk mit viel, viel, viel Eis reichen.
Darf ich so kühn sein und hoffen, daß eine offizielle Bittschrift mit einem
günstigen Omen beantwortet würde ?«
Der Schwefelgeruch verzog
sich, und der Donner erstarb. Meister Li verneigte sich.
»Göttin, die Welt der
Menschen ist eine Welt der Beschränktheit«, sagte er leise. »Unsere Sinne sind
beklagenswert begrenzt. Unser Gehirn ist nicht mehr als eine winzige
Kerzenflamme, die unruhig in einer unendlichen Dunkelheit flak-kert. Unsere
einzige Weisheit liegt darin zu gestehen, daß wir nichts verstehen, und da wir
nichts verstehen, müssen wir das Beste aus unserem Glauben machen, denn er ist
unsere einzige Gabe. Die größte Tat des Glaubens, zu der wir fähig sind, ist
es, andere mehr als uns selbst zu lieben, und hin und wieder gelingt uns das
recht gut .« Er streckte die Hand aus und legte den
Stein ins Gras. »Wir danken Euch für Eure Hoffnung, daß der einzigen winzigen
Gabe des Menschen gelingen möge, was andere Kräfte nicht vermochten«, sagte er.
»Wir danken Euch, daß ihr uns einen fehlerhaften Stein geschickt habt, der über
die Jahrhunderte hinweg eine fehlerhafte Blume rief. Wir danken Euch, daß Ihr
uns die Blume geschickt habt, die auf den Ruf antworten und das größte
Geschenk, zu dem die Liebe fähig ist, machen würde. Wir danken Euch, daß Ihr
die Stücke zusammengebracht habt, und wir bitten darum, daß einem Stein und
einer Blume endlich die Aufnahme in den Himmel gewährt wird .«
Er neigte sich bis zur
Erde. Ich folgte seinem Beispiel, aber ich riskierte ein Auge. Meister Li tat
es ebenfalls. Ein schräger Sonnenstrahl drang durch die Wolken und glitt zu dem
Stein. Ich hatte das Gefühl, daß er ihn untersuchte und prüfte, während er über
die Oberfläche wanderte. Dann stand alles still. Die Vögel hörten auf zu singen,
die Insekten hörten auf zu summen, und die Tiere hörten auf zu rascheln. Selbst
der Wind hörte auf zu wehen, als der Stein sich langsam aus dem Gras hob und
etwa vier Fuß über der Erde
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