Meister Li und der Stein des Himmels
schwebte.
Ich hörte ein Summen. Ein
Licht begann, in dem Stein zu glühen, und eine Schwingung machte mich
schwindlig. Das innere Licht begann zu pulsieren, schneller und schneller, und
der Stein begann zu zittern. Aus dem Summen war inzwischen ein gedämpftes
Dröhnen von unglaublicher Stärke geworden, und ein Strahlenkranz kreiste um den
Stein. Ein zweiter Strahlenkranz durchschnitt ihn, dann noch einer und noch
einer. Der Stein schimmerte in einem blendenden Licht. Die Strahlenkränze
bildeten ein schwindelerregendes Muster ineinander verschlungener Ringe, und
ich wußte mit unumstößlicher Gewißheit, daß das Ch'i und Shih eines Steins genug Macht besaß, um das Tal der Seufzer in ein winziges
Aschehäufchen zu verwandeln.
Die Schwingung wurde immer
noch von dem Dröhnen begleitet, und der Stein zitterte immer noch. Das Dröhnen
nahm zu, und der Stein schien zerspringen zu wollen. Mondkind wurde
durchsichtig, schimmerte, zerfloß und verschwand im Nichts. Auf der strahlenden
Oberfläche des Steins erschien etwas. Farben nahmen an Leuchtkraft zu,
Knospen hoben und öffneten
sich, und wir sahen eine wunderschöne Blume. Die Schwingung erstarb, und der
Stein hörte auf zu zittern. Dann nahm die Kraft wieder zu - eine ungeheure
Macht! - und das Zittern und die Schwingung setzten wieder ein.
Klagende Morgendämmerung
wurde durchsichtig. Ihr Körper schimmerte und zerfloß wie Morgentau, und nur
das niedergedrückte Gras verriet, wo sie gelegen hatte. Auf dem Stein erschien
noch etwas. Eine anmutige grüne Ranke legte sich um den Stein und die Blume,
und die drei schienen in einer ewigen Umarmung verschlungen zu sein. Die
Schwingung erstarb, und der Stein hörte auf zu zittern. Das Dröhnen der
ehrfurchtgebietenden Macht wurde stärker und stärker, und die kreisenden
Strahlenkränze verschmolzen miteinander. Nichts konnte der Kraft widerstehen,
die sich dem Grenzenlosen näherte, doch der Stein blieb völlig ruhig und fest,
und ich fürchtete nicht mehr, er werde zerspringen. Dann verblaßte das
blendende Licht, das Dröhnen verstummte, und die Strahlenkränze drehten sich
langsamer. Der Stein begann, zu den Wolken aufzusteigen, wurde immer schneller
und schoß wie ein winziger Komet dem Großen Fluß der Sterne, der Himmelsmauer
und der Göttin Nu Kua entgegen. Der ferne Funke verblaßte und war verschwunden.
Meister Li stand auf und
reckte sich. »Woher soll ich das wissen ?« sagte er als
Antwort auf mein fragendes Gesicht. »Ich verstehe das Universum nicht besser
als die Alten, und ich beglückwünsche sie zu ihrer Vernunft, die himmlischen
Dinge den Göttern zu überlassen. Ich weiß nur, gewisse Dinge sind möglich und
andere nicht .« Er drehte sich um und blickte über die
Schlucht. »Nun gut, Prinz. Lug und Trug mögen die Welt regieren, aber
Klassizismus ist immer noch das Gelbe vom Ei, wenn man das Neo von ihm
trennt«, sagte er zu den rauchenden Trümmern des Ateliers. »Die klassischen
Wahrheiten gelten immer noch, die klassischen Werte bestimmen immer noch die
Grenzen, und die klassischen Normen halten immer noch das Universum zusammen .«
Zu mir sagte er: »Komm,
Ochse, suchen wir uns einen Platz, wo man immer noch weiß, wie man sich
klassisch betrinkt .«
»Ja, Meister«, sagte ich.
Ich beugte mich vor, und er
hüpfte mir flink auf den Rücken. Ich drehte mich um und lief den Weg zum
Kloster hinunter und weiter nach Peking, zur Himmelsbrücke, zur Fliegengasse
und zur Kneipe des Einäugigen Wong.
1 Die Bedeutung ist unklar, die
Implikation jedoch unerfreulich. Es wird daran erinnert, daß die Bände zwei bis
fünf der Gesamtausgabe Die Erinnerungen von Nummer Zehn der Ochse von
den kaiserlichen Zensoren beschlagnahmt und verbrannt worden sind. Gerüchte
behaupten zwar, einzelne Exemplare seien noch vorhanden, aber es wurden noch
keine gefunden.
2 Eine Anspielung auf: Die Brücke
der Vögel, Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main, 1986.
3 Offiziell Yang Wan-li
zugeschrieben.
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