Meister Li und der Stein des Himmels
dich eine Weile
allein lassen«, sagte er ruhig.
»Wenn eine Blume gelobt,
Tränen zu vergießen, ist das eine
sehr ernste Verpflichtung,
und weder Götter noch Menschen
haben das Recht, ihre
Entscheidung zu beeinflussen .«
Er drehte sich um, und wir
gingen um den Gipfel herum zur anderen Seite des Rechten Drachenhorns. Meister
Li setzte sich auf einen flachen Stein und blickte ins Tal hinunter. Dort
liefen die Bauern ängstlich durcheinander, aber soweit ich sehen konnte,
beschränkten sich die Folgen des Erdbebens auf ein paar eingestürzte Dächer und
Scheunen. Weiche Schattendecken legten sich über die Felder, und die Vögel
sangen ihre letzten Lieder. Meister Li hob den Weinschlauch und behielt den
Nektar zuerst ehrfürchtig im Mund, ehe er ihn hinunterschluckte. »Ochse, ich
glaube, Prinz Liu Pao sollte ein Held werden«, sagte er nachdenklich. »Es ist
besser so, obwohl es für seine Erben auf lange Sicht Probleme mit sich bringen
kann. Wir sagen dem Abt, der Prinz sei im letzten siegreichen Kampf gegen die
Mächte des Bösen umgekommen, und daß sein abscheulicher Ahne das Tal der
Seufzer nie wieder heimsuchen wird .« »Ja, Meister«,
sagte ich.
»Die Bauern werden einen
Tempel für ihn wollen, aber ein Schrein tut es auch .« Meister Li begann, sich für den Gedanken zu erwärmen. »Sagen wir zwei Schreine !« rief er begeistert. »Wir behaupten, es sei sein Wunsch
gewesen, der Länge nach halbiert zu werden. Jede Hälfte soll in einem der
beiden zerstörten Teile der Prinzentrift als Dünger für neue Pflanzen begraben
werden .« »Ja, Meister«, sagte ich.
»Er wird die Heiligen
Prinzenhälften im Tal der Seufzer werden. Jede Hälfte wird die sehende Seite
den guten Taten der Bauern zuwenden und die blinde Seite den schlechten, und
die Legende über das, was geschehen wird, wenn Gefahr droht und die beiden
Hälften sich wieder vereinigen, müßte sehr interessant sein. Ich hoffe, die
Höhle von Wolf hat das Erdbeben überstanden, denn die Jungen sollten sofort
anfangen, an der Legende zu arbeiten .« »Ja, Meister«,
sagte ich.
»Seine letzten Worte waren:
Ich sehne mich danach, im Grab zu liegen, das unschuldige Lachen von
Kindern und das wonnige Blöken der Lämmer zu hören, und .. .«
»Nein, Meister«, sagte ich.
»Vermutlich hast du recht .« Meister Li nickte. »Soweit gehen Bauern nicht. Am besten
übernimmst du diesen Teil .« »Ja, Meister«, sagte ich.
»Mit seinen letzten Worten
wies er seine Erben an, den durch das Erdbeben entstandenen Schaden
wiedergutzumachen und dem Kloster ein neues Dach zu stiften .« »Du bist ein guter Junge«, sagte Meister Li. »Außerdem sollen sie den Damm an
der Kreuzung der Wege zwischen Kloster, Dorf und Schloß reparieren. Ein
ordentlicher Platzregen, und die Melonen schwimmen nach Soo-chow .«
»Noch etwas?«
»Nein, Meister«, sagte ich.
»Noch mehr, und die Bauern werden erwarten, daß die Erben des Prinzen ihnen die
Sandalen flicken und die Nachttöpfe leeren .«
Wir saßen schweigend
nebeneinander. Meister Lis Falten schienen älter als die Risse und Spalten in
den Hügeln zu sein, und er wurde melancholisch.
»Weißt du, der Prinz hatte
recht«, sagte er. »Ich bin beinahe der letzte Vertreter der alten Art, und
vielleicht ist das ganz gut so. Wenn man von den Neokonfuzianern absieht,
spricht sehr viel für die neue, für die kommende Zeit. Trotzdem hoffe ich, du
machst fleißig Notizen, um die archaische Art Probleme anzugehen, zu
dokumentieren. Die alte Art macht viel Spaß, in ihr liegt viel Schönheit, und
alle, die nach ihr vorgehen, sterben selten an Langeweile.« »Ja, Meister«,
sagte ich.
Er sah mich ernst an und
nickte. Wir standen auf und gingen zurück. Ich versuchte, mich vorzubereiten,
aber es traf mich trotzdem wie ein Faustschlag in die Magengrube. Meine Augen
schwammen in Tränen. »O Mondkind«, schluchzte ich.
Er tat immer alles sehr
ordentlich. Meister Lis Messer war sorgfältig gesäubert, und er hatte einen
kleinen Damm aus Erde gebaut, damit das Blut aus der Pulsader sich sammelte und
über den Stein floß, ohne das Gras unnötig zu beflecken. Mondkind hatte die
Hand von Klagende Morgendämmerung über seine gelegt und den Stein darunter.
Meister Li ging hinüber, hob sanft die Hände und nahm den Stein. Er wusch ihn
im Wein, den er in Nektar verwandelt hatte, trocknete ihn an seinem Gewand ab
und hielt ihn ins Licht. »Ochse, was für ein wundervolles Werk«, flüsterte er.
Ein Stein hatte vor langer Zeit das
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