Meister Li und der Stein des Himmels
anpaßten, was scheinbar nur Luft war, und
darauf gingen. Der Traum des Ochsen von einer orangefarbenen Tonkugel war ein
unbewußtes Echo des dritten Gesetzes: Alle Energie wird durch das Festhalten an
klassischen Mustern kontrolliert .« Meister Li ging
wieder auf und ab.
»Ochse träumte, die
Tonkugel habe einen Puls, der einem ungewöhnlichen Rhythmus folgte. Das dritte
Gesetz besagt, daß auch das unbedeutendste Stück Ton sein Ch'i und sein Shih in Einklang mit dem des vollkommenen Tons bringen muß, und daß die Kraft der
Sterne im Einklang mit der Schwingung des vollkommenen Sterns stehen muß. Jede
Pflanze, jedes Tier, jedes Insekt, jeder Wassertropfen, jedes Staubkorn - alles
im Universum hat ein klassisches Vorbild, von dem es sich leiten lassen muß.
Diese vollkommenen Schwingungen sind die Bausteine, aus denen der Wall gegen
die Anarchie gemacht wurde. Man nennt ihn die Himmelsmauer. Deshalb sagten die
Alten: Genug! Bis hierher und nicht weiter ! und hörten auf zu fragen. Der nächste Schritt verlangte, das Wesen der
universalen Kraft als Ganzes zu verstehen, und das übersteigt bei weitem die
Fähigkeiten des menschlichen Geistes .«
Meister Li blieb stehen und
hob mahnend seinen Zeigefinger.
»Soviel kann man sagen. Es
gibt nichts Wichtigeres für alles Leben, als die Himmelsmauer zu erhalten.
Nichts! Die Kräfte sind ehrfurchtgebietend, und wenn die Mauer einstürzen und
die Kraft Amok laufen würde, könnte das ganze Universum keine Sekunde länger
bestehen. Die Göttin Nu Kua hat die Aufgabe, die Himmelsmauer instand zu
halten, und wenn die Göttin etwas will, bekommt sie es. Aus unerfindlichen
Gründen wollte sie einen Stein mit einem Fehler, und als sie den Fehler nicht
beheben konnte, warf sie uns den Stein in den Schoß .«
Meister Li setzte sich
zwischen Mondkind und mich und nahm die beiden Stücke des Steins, die Mondkind
in der Hand hielt. Vorsichtig fügte er sie mit dem Stück des Prinzen zusammen
und hielt den Stein aus den drei Stücken ins Licht.
»Da ist der Fehler, seht
ihr ihn ?« Eine winzige Goldader zog sich durch den
Stein. »Gold ist etwas Schönes, aber für einen Stein etwas Schlechtes.
Besonders, wenn man ihn für eine Mauer verwenden will.«
An den einzelnen Stücken
war es mir nicht aufgefallen, aber nun sah ich die schwachen gelben Adern an
den Bruchstellen.
»Die Annalen von Himmel und
Erde, wenn wir davon ausgehen, daß es sie gab, berichten, daß die Göttin den
Stein schließlich verwerfen mußte, aber erst, als die Berührung ihrer Hand ihm
eine Seele geschenkt hatte«, murmelte Meister Li. »Später benutzten ihn zwei
große Philosophen als Tuschstein, und die Berührung des Himmels brachte eine
göttliche Kalligraphie hervor. Prinz Liu Pao benutzte ihn, um von den Göttern
zu stehlen, denn er wollte hübsche Bilder malen. Ich frage mich...«
Er sprach den Satz nicht zu
Ende, sondern band den zusammengefügten Stein schnell mit der Schnur zusammen,
die der Prinz um den Hals getragen hatte. Er öffnete den Weinschlauch und
tauchte den Stein hinein. Nach einer Minute zog er ihn wieder heraus, entfernte
die Schnur und legte den Stein ins Gras. Er setzte den Weinschlauch an die
Lippen, und ich sah, wie langsam ein sinnlicher Schauer durch seinen Körper
rann. Als er den Kopf hob, glänzten seine Augen vor Ehrerbietung.
»Erhabener Jadekaiser, wenn
man das im Himmel trinkt, laß mich lange genug leben, damit ich ein Heiliger
werde«, flüsterte er.
Mondkind und ich tranken
kleine Schlucke. Mir fehlen die Worte dafür. Aus dem scharfen Alkohol des
Haininger Bergtaus war der Nektar der Götter geworden, und wenn ich ihn
beschreiben wollte, müßte ich von den mystischen Schilderungen göttlicher
Offenbarungen stehlen. »Nun sage einer etwas von Versuchung !« rief Meister Li. »Ich könnte anfangen, ganze Seen davon zu machen, und man
würde mich auf der Stelle zum Gott erheben!« Der Wein hatte auf Mondkind die
stärkste Wirkung. Er wurde leichenblaß und begann, von einem mächtigen Gefühl
erfaßt, sich hin und her zu wiegen. Ich glaubte, er würde weinen, bis mir klar
wurde, daß er nie eine Träne vergoß. Mondkind konnte nicht weinen, selbst wenn
Klagende Morgendämmerung tot neben ihm lag. Meister Li betrachtete Mondkind forschend.
»Weißt du, es ist gut
möglich, daß ich denselben Fehler zweimal begehe«, sagte er nachdenklich. »Bei
dem Prinzen habe ich das Naheliegende nicht gesehen, weil es zu einfach war,
und jetzt versuche ich vielleicht, etwas zu
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