Meister und Margarita
die Wand. Ohne einen Schlüssel zu gebrauchen, öffnete Azazello den Koffer, holte daraus ein wuchtiges Brathuhn mit nur einem einzigen Bein, gewickelt in fettige Zeitungsblätter, und legte es auf eine Stufe. Dem folgten zwei Unterhosen, ein Streichriemen, ein Lederetui und irgendein Buch. Mit einem Fußtritt beförderte er dies alles – ausgenommen das Huhn – in den Treppenschacht. Und der leere Koffer flog hinterher und schlug lautstark auf. (Dem Krach nach zu urteilen, sprang der Deckel davon.)
Nun aber packte der rote Halunke das Huhn bei der Keule und versetzte Poplawski mit demselbigen einen so furchtbaren Schlag auf den Nacken, dass der Rumpf sich losriss, während das Bein bei Azazello blieb. »Alles geriet durcheinander im Hause Oblonski«, schrieb einst der große Leo Tolstoi. Nun, genau das hätte er jetzt gesagt. In der Tat! Alles geriet durcheinander in den Augen Poplawskis. Ein glitzernder Lichtstreifen schwirrte vorbei, wurde zu einer Trauerschleife, die einen Moment lang den strahlenden Maitag auszulöschen drohte – und schon kullerte Poplawski die Stufen herab, den Ausweis fest in der Hand gepresst. Am nächsten Treppenabsatz landete er mit dem Fuß in einer Fensterscheibe, die kaputt ging, und setzte sich auf. Vorüber sauste ein beinloses Huhn und verschwand im Schacht. Azazello – oben – benagte sofort die Keule, steckte sich den Knochen in die Seitentasche des Trikots und knallte die Tür zu.
Von unten her kamen schüchterne Schritte.
Poplawski rannte noch eine Treppe abwärts und setzte sich auf das kleine Bänkchen, welches dort stand. Er schnappte nach Luft.
Irgendein winziger alter Herr stieg gerade die Stufen hinauf.Ungewöhnlich traurige Miene. Vorsintflutlicher Seidenanzug. Fester Strohhut mit grünem Band.
– Verzeihen Sie –, der Mann im Seidenanzug wandte sich trübsinnig an Poplawski, – wo ist hier die Wohnung Nummer 50?
– Höher! –, hechelte der Angesprochene.
– Haben Sie vielen herzlichen Dank –, sagte das Männlein in tiefster Wehmut und ging weiter nach oben, während der andere aufstand und hinunterlief.
Nun, wohin eilte Maximilian Andrejewitsch? Zur nächsten Milizwache vielleicht? Um sich dort über die Mistkerle zu beschweren? Und den ziemlich üblen Empfang, welchen sie ihm am helllichten Tag bereitet haben? – Auf gar keinen Fall. In dem Punkt herrscht absolute Gewissheit. – Ein Revier betreten und dann erzählen: Ein Kater mit Brille hat soeben meinen Ausweis inspiziert? Und ein Mann im Trikot mit einem Messer … – Nein, Herrschaften, Maximilian Andrejewitsch war in jeder Hinsicht ein kluger Mensch!
Er befand sich schon unten, als er am Ausgang eine Tür zu irgendeiner Kammer erblickte – das Glas im Türrahmen eingeschlagen. Poplawski steckte den Pass in die Tasche und suchte mit den Augen nach den übrigen Sachen: keine Spur von ihnen. Und das Verrückteste: Es lässt einen vollkommen kalt. Was dagegen wirklich interessant, ja geradezu bestechend erscheint, ist: an dem traurigen Männlein die verfluchte Wohnung zu testen. Natürlich! Wenn er nach ihr fragt, heißt es: Er geht zum ersten Mal hin. Was wiederum bedeutet: Er begibt sich jetzt geradewegs in die Fänge der Clique, welche sich offenbar die Wohnung unter den Nagel gerissen hat. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen: Es wird ein verdammt kurzer Besuch. Die Beisetzung des Neffen kommt verständlicherweise nicht mehr infrage. Bis zur Abfahrt des Zuges ist noch viel Zeit. Der Wirtschaftsplaner sah sich schnell um und huschte ins Kämmerchen.
Jetzt fiel dort oben die Tür ins Schloss. »Er ist drin …«, dachtePoplawski mit Herzklopfen. In seinem Kämmerchen war es kühl, es roch nach Mäusen und alten Schuhen. Maximilian Andrejewitsch nahm Platz auf einem Holzklotz, entschlossen zu warten. Ein gar nicht mal schlechter Beobachtungsposten. Der Hauseingang 6 bestens zu sehen.
Es dauerte länger als vermutet. Warum auch immer, blieb die Treppe die ganze Zeit leer. Nicht ein einziges störendes Geräusch. Endlich ging oben die Wohnungstür auf. Poplawski erstarrte. Ja, seine Schritte. Er kommt. Dann eine weitere Tür, Stock tiefer. Keine Schritte mehr. Eine Frau sprach. Dann das Stimmchen des traurigen Mannes … Genau, sein Stimmchen … Irgendwas wie »Lass mich, bitte, um Christi willen …«. Poplawskis Ohr steckte mitten im gesprungenen Glas. Dieses Ohr erlauschte weibliches Lachen. Flotte Schritte die Treppe herab. Für Sekunden ein Frauenrücken. Eine Dame ging aus dem Haus,
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