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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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wieder zu vergessen.
    Dann sah ich Sie wieder, kaum eine Viertelstunde später.
    Sie saßen am Nebentisch und sahen plötzlich ganz anders aus, ich merkte nicht gleich, daß Sie derselbe seien, der mir vorher begegnet war. Und dann, nach meinem Tanz, standen Sie auf einmal vor mir und hielten mich an der Hand, oder ich Sie, ich weiß nicht recht. Wie ging das zu? Sie müssen doch etwas wissen. Aber ich hoff e, Sie sind nicht etwa gekommen, um mir Liebeserklärungen zu machen?«
    Sie sah ihn befehlend an.
    »Ich weiß nicht«, sagte Klein. »Ich bin nicht mit bestimm ten Absichten gekommen. Ich liebe Sie, seit gestern, aber wir brauchen ja nicht davon zu sprechen.«
    »Ja, sprechen wir von anderm. Es war gestern einen Au genblick etwas zwischen uns da, was mich beschäftigt und auch erschreckt hat, als hätten wir irgend etwas Ähnliches oder Gemeinsames. Was ist das? Und, die Hauptsache: Was war das für eine Verwandlung mit Ihnen? Wie war es mög lich, daß Sie innerhalb einer Stunde zwei so ganz verschie dene Gesichter haben konnten?
    Sie sahen aus wie ein Mensch, der sehr Wichtiges erlebt hat.«
    »Wie sah ich aus?« fragte er kindlich.
    »Oh, zuerst sahen Sie aus wie ein älterer, etwas vergräm ter, unangenehmer Herr. Sie sahen aus wie ein Philister, wie ein Mann, der gewohnt ist, den Zorn über seine eigene Unfä higkeit an andern auszulassen.«

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    Er hörte mit gespannter Teilnahme zu und nickte lebhaft. Sie fuhr fort:
    »Und dann, nachher, das läßt sich nicht gut beschreiben. Sie saßen etwas vorgebückt; als Sie mir zufällig in die Augen fi elen, dachte ich in der ersten Sekunde noch: Herrgott, ha ben diese Philister traurige Haltungen! Sie hatten den Kopf auf die Hand gestützt, und das sah nun plötzlich so seltsam aus: es sah aus, als wären Sie der einzige Mensch in der Welt, und als sei es Ihnen ganz und gar einerlei, was mit Ihnen und mit der ganzen Welt geschähe. Ihr Gesicht war wie eine Maske, schauderhaft traurig oder auch schauderhaft gleich gültig –« Sie brach ab, schien nach Worten zu suchen, sagte aber nichts.
    »Sie haben recht«, sagte Klein bescheiden. »Sie haben so richtig gesehen, daß ich erstaunt sein müßte. Sie haben mich gelesen wie einen Brief. Aber eigentlich ist es ja nur natürlich und richtig, daß Sie das alles sahen.«
    »Warum natürlich?«
    »Weil Sie, auf eine etwas andere Art, beim Tanzen ganz das gleiche ausdrücken. Wenn Sie tanzen, Teresina, und auch sonst in manchen Augenblicken, sind Sie wie ein Baum oder ein Berg oder Tier, oder ein Stern, ganz für sich, ganz allein, Sie wollen nichts anderes sein, als was Sie sind, einerlei ob gut oder böse. Ist es nicht das gleiche, was Sie bei mir sa hen?«
    Sie betrachtete ihn prüfend, ohne Antwort zu geben.
    »Sie sind ein wunderlicher Mensch«, sagte sie dann zö gernd. »Und wie ist das nun: sind Sie wirklich so, wie 459
    Sie da aussahen? Ist Ihnen wirklich alles einerlei, was mit Ihnen ge schieht?«
    »Ja. Nur nicht immer. Ich habe oft auch Angst. Aber dann kommt es wieder, und die Angst ist fort, und dann ist alles einerlei. Dann ist man stark. Oder vielmehr: einerlei ist nicht das Richtige, alles ist köstlich und willkommen, sei es, was es sei.«
    »Einen Augenblick hielt ich es sogar für möglich, daß Sie ein Verbrecher wären.«
    »Auch das ist möglich. Es ist sogar wahrscheinlich.
    Sehen Sie, ein ›Verbrecher‹, das sagt man so, und man meint damit, daß einer etwas tut, was andre ihm verboten haben. Er selber aber, der Verbrecher, tut ja nur, was in ihm ist. – Sehen Sie, das ist die Ähnlichkeit, die wir beide haben: wir beide tun hier und da, in seltnen Augenblicken, das, was in uns ist. Nichts ist seltener, die meisten Menschen kennen das über haupt nicht.
    Auch ich kannte es nicht, ich sagte, dachte, tat, lebte nur Fremdes, nur Gelerntes, nur Gutes und Richtiges, bis es eines Tages damit zu Ende war. Ich konnte nicht mehr, ich mußte fort, das Gute war nicht mehr gut, das Richtige war nicht mehr richtig, das Leben war nicht mehr zu ertra gen. Aber ich möchte es dennoch ertragen, ich liebe es sogar, obwohl es soviel Qualen bringt.«
    »Wollen Sie mir sagen, wie Sie heißen und wer Sie sind?«
    »Ich bin der, den Sie vor sich sehen, sonst nichts. Ich habe keinen Namen und keinen Titel und auch keinen 460
    Beruf. Ich mußte das alles aufgeben. Mit mir steht es so, daß ich nach einem langen braven und fl eißigen Leben eines Tages aus dem Nest gefallen bin, es ist noch nicht lange her, und jetzt

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