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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Abschiedsgeschenk für die Kleine. Dabei er schrak sie plötzlich, als sie sah, wie spät es schon war.
    Über dem schlafenden Haus und dem dämmernden
    Gar ten standen ruhig die milchweißen, fl aumig dünnen Wolken, die Himmelsinsel am Horizont wuchs langsam zu einem wei ten, reinen, dunkelklaren Felde, zart von schwachglänzen den Sternen durchglüht, und über die entferntesten Hügel lief eine milde, schmale Silberlinie, sie vom Himmel tren nend. Im Garten atmeten die er-frischten Bäume tief und ra stend, und auf der Parkwiese wechselte mit dünnen, wesen losen Wolkenschatten der schwarze Schattenkreis der Blut buche.
    Die sanfte, noch von Feuchtigkeit gesättigte Luft dampfte leise gegen den völlig klaren Himmel. Kleine Wasserlachen standen auf dem Kiesplatz und auf der Landstraße, blitzten goldig oder spiegelten die zarte Bläue. Knirschend fuhr der Wagen vor, und man stieg ein. Der Kandidat machte meh rere tiefe Bücklinge, die Tante nickte liebevoll und drückte noch einmal allen die Hände, die Hausmädchen sahen vom Hintergrunde des Flures der Abfahrt zu.
    Paul saß im Wagen Th
    usnelde gegenüber und spielte
    den Fröhlichen. Er lobte das gute Wetter, sprach rühmend von köstlichen Ferientouren in die Berge, die er vorhabe, und sog jedes Wort und jedes Lachen des Mäd-90
    chens gierig ein. Am frühen Morgen war er mit schlechtem Gewissen in den Gar ten geschlichen und hatte in dem peinlich geschonten Lieb lingsbeet seines Vaters die prächtigste halboff ene Teerose abgeschnitten. Die trug er nun, zwischen Seidenpapier ge legt, versteckt in der Brusttasche und war beständig in Sorge, er könnte sie zerdrücken. Ebenso bang war ihm vor der Möglichkeit einer Entdeckung durch den Vater.
    Die kleine Berta war ganz still und hielt den blühenden Jasminzweig vors Gesicht, den ihr die Tante mitge-geben hatte. Sie war im Grunde fast froh, nun fortzu-kommen.
    »Soll ich Ihnen einmal eine Karte schicken?« fragte Th
    us
    nelde munter.
    »O ja, vergessen Sie es nicht! Das wäre schön.«
    Und dann fügte er hinzu: »Aber Sie müssen dann
    auch un terschreiben, Fräulein Berta.«
    Sie schrak ein wenig zusammen und nickte.
    »Also gut, hoff entlich denken wir auch daran«, sagte Th
    usnelde.
    »Ja, ich will dich daran erinnern.«
    Da war man schon am Bahnhof. Der Zug sollte erst in ei ner Viertelstunde kommen. Paul empfand diese Viertel stunde wie eine unschätzbare Gnadenfrist. Aber es ging ihm sonderbar; seit man den Wagen verlassen hatte und vor der Station auf und ab spazierte, fi el ihm kein Witz und kein Wort mehr ein. Er war plötzlich be-drückt und klein, sah oft auf die Uhr und horchte, ob 91
    der kommende Zug schon zu hören sei. Erst im letzten Augenblick zog er seine Rose her vor und drückte sie noch an der Wagentreppe dem Fräulein in die Hand. Sie nickte ihm fröhlich zu und stieg ein. Dann fuhr der Zug ab, und alles war aus. Vor der Heimfahrt mit dem Papa graute ihm, und als dieser schon eingestiegen war, zog er den Fuß wieder vom Tritt zurück und meinte: »Ich hätte eigentlich Lust, zu Fuß heimzugehen.«
    »Schlechtes Gewissen, Paulchen?«
    »O nein, Papa, ich kann ja auch mitkommen.«
    Aber Herr Abderegg winkte lachend ab und fuhr allein davon. ›Er soll’s nur ausfressen‹, knurrte er unterwegs vor sich hin, ›umbringen wird’s ihn nicht.‹ Und er dachte, seit Jahren zum erstenmal, an sein erstes Lie-besabenteuer und war verwundert, wie genau er alles noch wußte. Nun war also schon die Reihe an seinem Kleinen! Aber es gefi el ihm, daß der Kleine die Rose gestohlen hatte. Er hatte sie wohl gesehen.
    Zu Hause blieb er einen Augenblick vor dem Bücherschrank im Wohnzimmer stehen. Er nahm den Werther her aus und steckte ihn in die Tasche, zog ihn aber gleich darauf wieder heraus, blätterte ein wenig darin herum, begann ein Lied zu pfeifen und stellte das Büchlein an seinen Ort zu rück.
    Mittlerweile lief Paul auf der warmen Landstraße heim wärts und war bemüht, sich das Bild der schönen Th
    usnelde immer wieder vorzustellen. Erst als er heiß und erschlaff t die Parkhecke erreicht hatte, öff nete er 92
    die Augen und besann sich, was er nun treiben solle.
    Da zog ihn die plötzlich auf blitzende Erinnerung unwiderstehlich zur Trauerweide hin. Er suchte den Baum mit heftig wallendem Verlangen auf, schlüpfte durch die tiefhängenden Zweige und setzte sich auf dieselbe Stelle der Bank, wo er gestern neben Th
    usnelde gesessen war
    und wo sie ihre Hand auf seine gelegt hatte. Er

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