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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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lese. Das eine ist die ›Geheimlehre‹ der Frau Blavatsky, ein schauerliches Werk. Das andere ist ein Roman von Balzac. Manchesmal stehe ich auf, um ein paar Zigarren aus der Schublade zu holen, zweimal um zu essen. Die ›Geheimlehre‹ wird immer dicker, sie 96
    wird nie ein Ende nehmen und mich ins Grab begleiten.
    Der Balzac wird immer dünner, er schwindet täglich, obwohl ich nicht viel Zeit an ihn wende.
    Wenn mir die Augen weh tun, setze ich mich in den Lehn stuhl und schaue zu, wie die dürftige Tageshelle an den bü cherbedeckten Wänden hinstirbt und versiegt.
    Oder ich stelle mich vor die Wände und schaue die Bücherrücken an. Sie sind meine Freunde, sie sind mir geblieben, sie werden mich überleben; und wenn auch mein Interesse für sie im Schwinden begriff en ist, muß ich mich doch an sie halten, da ich nichts anderes habe.
    Ich schaue sie an, diese stummen, zwangsweise treu gebliebenen Freunde, und denke an ihre Geschichten.
    Da ist ein griechischer Prachtband, in Leyden gedruckt, irgendein Philosoph. Ich kann ihn nicht lesen, ich kann schon lang kein Griechisch mehr. Ich kaufte ihn in Ve-nedig, weil er billig war und weil der Antiquar ganz überzeugt war, ich lese Griechisch geläufi g. So kaufte ich ihn, aus Verlegenheit, und schleppte ihn in der Welt herum, in Koff ern und Kisten, sorgfältig eingepackt und ausge-packt, bis hierher, wo ich nun festsitze und wo auch er seinen Stand und seine Ruhe gefunden hat.
    So vergeht der Tag, und der Abend vergeht bei Lampen licht, Büchern, Zigarren, bis gegen zehn Uhr. Dann steige ich im kalten Nebenzimmer ins Bett, ohne zu wissen warum, denn ich kann wenig schlafen. Ich sehe das Fensterviereck, den weißen Waschtisch, ein weißes Bild überm Bett in der Nachtblässe schwimmen, ich höre 97
    den Sturm im Dach pol tern und an den Fenstern zittern, höre das Stöhnen der Bäume, das Fallen des gepeitsch-ten Regens, meinen Atem, meinen leisen Herzschlag.
    Ich mache die Augen auf, ich ma che sie wieder zu; ich versuche an meine Lektüre zu denken, doch gelingt es mir nicht. Statt dessen denke ich an andere Nächte, an zehn, an zwanzig vergangene Nächte, da ich ebenso lag, da ebenso das bleiche Fenster schimmerte und mein leiser Herzschlag die blassen, wesenlosen Stunden ab-zählte. So vergehen die Nächte.
    Sie haben keinen Sinn, so wenig wie die Tage, aber sie ver gehen doch, und das ist ihre Bestimmung. Sie werden kom men und vergehen, bis sie wieder irgendeinen Sinn erhalten oder auch bis sie zu Ende sind, bis mein Herzschlag sie nim mer zählen kann. Dann kommt der Sarg, das Grab, vielleicht an einem hellblauen Septembertag, vielleicht bei Wind und Schnee, vielleicht im schönen Juni, wenn der Flieder blüht. Immerhin sind meine Stunden nicht alle so. Eine, eine halbe von hundert ist doch anders. Dann fällt mir plötzlich das wieder ein, an was ich eigentlich immerfort denken will und was mir die Bücher, der Wind, der Regen, die blasse Nacht immer wieder verhüllen und entziehen. Dann denke ich wie der: Warum ist das so? Warum hat Gott dich verlassen?
    Warum ist deine Jugend von dir gewichen? Warum
    bist du so tot?
    Das sind meine guten Stunden. Dann weicht der er-drückende Nebel. Geduld und Gleichgültigkeit fl iehen 98
    fort, ich schaue erwacht in die scheußliche Öde und kann wieder füh len. Ich fühle die Einsamkeit wie einen gefrorenen See um mich her, ich fühle die Schande und Torheit dieses Lebens, ich fühle den Schmerz um die verlorene Jugend grimmig fl ammen. Es tut weh, freilich, aber es ist doch Schmerz, es ist doch Scham, es ist doch Qual, es ist doch Leben, Denken, Be wußtsein.
    Warum hat Gott dich verlassen? Wo ist deine Jugend hin? Ich weiß es nicht, ich werde es nie erdenken. Aber es sind doch Fragen, es ist doch Aufl ehnung, es ist doch nicht mehr Tod. Und statt der Antwort, die ich doch nicht erwarte, fi nde ich neue Fragen. Zum Beispiel: Wie lange ist es her? Wann war’s das letzte Mal, daß du jung gewesen bist?
    Ich denke nach, und die erfrorene Erinnerung kommt langsam in Fluß, bewegt sich, schlägt unsichere Augen auf und strahlt unversehens ihre klaren Bilder aus, die unverlo ren unter der Todesdecke schliefen.
    Anfangs will es mir scheinen, die Bilder seien ungeheuer alt, zum mindesten zehn Jahre alt. Aber das taub gewordene Zeitgefühl wird zusehends wacher, legt den vergessenen Maßstab auseinander, nickt und mißt.
    Ich erfahre, daß alles viel näher beieinander liegt, und nun tut auch das entschla
    fene

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