Meistererzählungen
schloß die Augen, ließ die Hand auf dem Holz liegen und fühlte noch einmal den ganzen Sturm, der gestern ihn ge packt und berauscht und gepeinigt hatte. Flammen wogten um ihn, und Meere rauschten, und heiße Ströme zitterten sausend auf purpurnen Flügeln vorüber.
Paul saß noch nicht lange auf seinem Platz, so klangen Schritte, und jemand trat herzu. Er blickte verwirrt auf, aus hundert Träumen gerissen, und sah den Herrn Homburger vor sich stehen.
»Ah, Sie sind da, Paul? Schon lange?«
»Nein, ich war ja mit an der Bahn. Ich kam zu Fuß zu rück.«
»Und nun sitzen Sie hier und sind melancholisch.«
»Ich bin nicht melancholisch.«
»Also nicht. Ich habe Sie zwar schon munterer gesehen.«
Paul antwortete nicht.
»Sie haben sich ja sehr um die Damen bemüht.«
»Finden Sie?«
»Besonders um die eine. Ich hätte eher gedacht, Sie wür den dem jüngeren Fräulein den Vorzug geben.«
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»Dem Backfi sch? Hm.«
»Ganz richtig, dem Backfi sch.«
Da sah Paul, daß der Kandidat ein fatales Grinsen auf-setzte, und ohne noch ein Wort zu sagen, kehrte er sich um und lief davon, mitten über die Wiese.
Mittags bei Tisch ging es sehr ruhig zu.
»Wir scheinen ja alle ein wenig müde zu sein«, lä-
chelte Herr Abderegg. »Auch du, Paul. Und Sie, Herr Homburger? Aber es war eine angenehme Abwechs-lung, nicht?«
»Gewiß, Herr Abderegg.«
»Sie haben sich mit dem Fräulein gut unterhalten?
Sie soll ja riesig belesen sein.«
»Darüber müßte Paul unterrichtet sein. Ich hatte leider nur für Augenblicke das Vergnügen.«
»Was sagst du dazu, Paul?«
»Ich? Vom wem sprecht ihr denn?«
»Von Fräulein Th
usnelde, wenn du nichts dagegen
hast. Du scheinst einigermaßen zerstreut zu sein –«
»Ach, was wird der Junge sich viel um die Damen geküm mert haben«, fi el die Tante ein.
Es wurde schon wieder heiß. Der Vorplatz strahlte Hitze aus, und auf der Straße waren die letzten Regen-pfützen ver trocknet. Auf ihrer sonnigen Wiese stand die alte Blutbuche, von warmem Licht umfl ossen, und auf einem ihrer starken Äste saß der junge Paul Abderegg, an den Stamm gelehnt und ganz von rötlich dunkeln Laubschatten umfangen. Das war ein alter Lieblingsplatz 94
des Knaben, er war dort vor jeder Überraschung sicher.
Dort auf dem Buchenast hatte er heim licherweise im Herbst vor drei Jahren die ›Räuber‹ gelesen, dort hatte er seine erste halbe Zigarette geraucht, und dort hatte er damals das Spottgedicht auf seinen früheren Hauslehrer gemacht, bei dessen Entdeckung sich die Tante so furchtbar aufgeregt hatte. Er dachte an diese und andere Streiche mit einem überlegenen, nachsichtigen Gefühl, als wäre das alles vor Urzeiten gewesen. Kindereien, Kinde reien.
Mit einem Seufzer richtete er sich auf, kehrte sich behut sam im Sitze um, zog sein Taschenmesser heraus und begann am Stamm zu ritzen. Es sollte ein Herz daraus werden, das den Buchstaben T umschloß, und er nahm sich vor, es schön und sauber auszuschneiden, wenn er auch mehrere Tage dazu brauchen sollte.
Noch am selben Abend ging er zum Gärtner hinüber, um sein Messer schleifen zu lassen. Er trat selber das Rad dazu. Auf dem Rückweg setzte er sich eine Weile in das alte Boot, plätscherte mit der Hand im Wasser und suchte sich auf die Melodie des Liedes zu besinnen, das er gestern von hier aus hatte singen hören. Der Himmel war halb verwölkt, und es sah aus, als werde in der Nacht schon wieder ein Gewitter kommen.
(1904)
Taedium vitae
Erster Abend
Es ist Anfang Dezember. Der Winter zögert noch, Stür-me heulen und seit Tagen fällt ein dünner, hastiger Regen, der sich manchmal, wenn es ihm selber zu langweilig wird, für eine Stunde in nassen Schnee verwandelt.
Die Straßen sind ungangbar, der Tag dauert nur sechs Stunden.
Mein Haus steht allein im freien Feld, umgeben vom heu lenden Westwind, von Regendämmerung und Ge-plätscher, von dem braunen, triefenden Garten und schwimmenden bo denlos gewordenen Feldwegen, die nirgendshin führen. Es kommt niemand, es geht niemand, die Welt ist irgendwo in der Ferne untergegangen.
Es ist alles, wie ich mir’s oft ge wünscht habe – Einsamkeit, vollkommene Stille, keine Men schen, keine Tiere, nur ich allein in einem Studierzimmer, in dessen Kamin der Sturm jammert und an dessen Fenster scheiben Regen klatscht.
Die Tage vergehen so: Ich stehe spät auf, trinke Milch, be sorge den Ofen. Dann sitze ich im Studierzimmer, zwischen dreitausend Büchern, von denen ich zwei abwechselnd
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