Meistererzählungen
über Mauern herab. Kinder wurden vermißt und gesucht, Men schen sollten auf den Feldern vom Hagel erschlagen worden sein. Man zeigte Hagelstücke herum, groß wie Talerstücke und noch größere.
Noch war ich zu erregt, um nach Hause zu gehen und den Schaden im eigenen Hause und Garten zu betrachten; auch fi el mir nicht ein, daß man mich vermissen könnte, es war mir ja nichts geschehen. Ich beschloß, noch einen Gang ins Freie zu tun, statt weiter durch die Scherben zu stolpern, und mein Lieblingsort kam mir verlockend in den Sinn, der alte Fest platz neben dem Friedhof, in dessen Schatten ich alle großen Feste meiner Knabenjahre gefeiert hatte. Verwundert stellte ich fest, daß ich erst vor vier, fünf Stunden auf dem Heimweg von den Felsen dort vorübergegangen sei; es schienen mir lange Zeiten seither vergangen.
Und so ging ich die Gasse zurück und über die untere Brücke, sah unterwegs durch eine Gartenlücke unsern roten sandsteinernen Kirchturm wohlerhalten stehen 237
und fand auch die Turnhalle nur wenig beschädigt.
Weiter drüben stand einsam ein altes Wirtshaus, dessen Dach ich von wei tem erkannte. Es stand wie sonst, sah aber doch sonderbar verändert aus, ich wußte nicht gleich warum. Erst als ich mir Mühe gab, mich genau zu besinnen, fi el mir ein, daß vor dem Wirtshaus immer zwei hohe Pappeln gestanden waren. Diese Pappeln waren nicht mehr da. Ein uralt vertrauter Anblick war zerstört, eine liebe Stelle geschändet.
Da stieg mir eine böse Ahnung auf, es möchte noch mehr und noch Edleres verdorben sein. Mit einemmal fühlte ich mit beklemmender Neuheit, wie sehr ich meine Heimat liebte, wie tief mein Herz und Wohlsein ab-hängig war von diesen Dächern und Türmen, Brücken und Gassen, von den Bäumen, Gärten und Wäldern. In neuer Erregung und Sorge lief ich rascher, bis ich drü-
ben bei dem Festplatze war.
Da stand ich still und sah den Ort meiner liebsten Erinne rungen namenlos verwüstet in völliger Zerstö-
rung liegen. Die alten Kastanien, in deren Schatten wir unsere Festtage gehabt hatten und deren Stämme wir als Schulknaben zu dreien und vieren kaum hatten um-armen können, die lagen abgebrochen, geborsten, mit den Wurzeln ausgerissen und umgestülpt, daß hausgro-
ße Löcher im Boden klaff ten. Nicht einer stand mehr an seinem Platze, es war ein schauderhaftes Schlachtfeld, und auch die Linden und die Ahorne waren ge fallen, Baum an Baum. Der weite Platz war ein ungeheurer 238
Trümmerhaufen von Ästen, gespaltenen Bäumen, Wurzeln und Erdblöcken, mächtige Stämme standen noch im Boden, aber ohne Baum, abgeknickt und abgedreht mit tausend wei ßen, nackten Splittern.
Es war nicht möglich weiterzugehen, Platz und Straße wa ren haushoch von durcheinandergeworfenen Stämmen und Baumtrümmern gesperrt, und wo ich seit den ersten Kinder zeiten nur tiefen heiligen Schatten und hohe Baumtempel ge kannt hatte, starrte der leere Himmel über der Vernichtung.
Mir war, als sei ich selber mit allen geheimen Wurzeln aus gerissen und in den unerbittlich grellen Tag ge-spien worden. Tagelang ging ich umher und fand keinen Waldweg, keinen vertrauten Nußbaumschatten, keine von den Eichen der Bubenkletterzeit mehr wieder, überall weit um die Stadt nur Trümmer, Löcher, gebrochene Waldhänge wie Gras hinge mäht, Baumleichen klagend mit entblößtem Wurzelwerk zur Sonne gekehrt. Zwischen mir und meiner Kindheit war eine Kluft aufge-brochen, und meine Heimat war nicht die alte mehr. Die Lieblichkeit und die Torheit der gewesenen Jahre fi elen von mir ab, und bald darauf verließ ich die Stadt, um ein Mann zu werden und das Leben zu bestehen, dessen erste Schatten mich in diesen Tagen gestreift hatten.
(1913)
Die Nichtraucherin
In den älteren Wagen der Gotthardbahn, welche im übrigen keine Muster der Bequemlichkeit sind, gibt es eine hüb sche und liebenswürdige Einrichtung, die mir stets gefallen hat, und die mir Nachahmung zu verdienen scheint. Die Wa genhälften für Raucher und Nichtraucher nämlich sind nicht durch hölzerne, sondern durch Glastüren getrennt, und wenn ein Reisender einmal für eine Viertelstunde von seiner Gattin Urlaub nimmt, um eine Zigarette zu rauchen, so kann sie ihn und kann er sie durch die Glasscheibe gelegentlich be obachten und begrüßen.
Mit meinem Freunde Othmar fuhr ich einst in einem sol chen Wagen gegen Süden, und wir waren beide in der ge spannten Laune von Ferienseligkeit und bangfroher Erwar tung, die in Jugendzeiten dazu
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