Meisterin der Runen
rebellieren. Ich selbst werde zu ihnen stoßen und um ihr Vertrauen werben. Später werden wir die Bretagne heimsuchen. Der dortige Graf Hoël wird die Überfälle Richard anlasten und zurückschlagen, was bedeutet, dass dieser Rouen verlassen wird. Ein guter Zeitpunkt, die Stadt zu überfallen, gesetzt, wir haben bis dahin genug Gefolgsleute angeworben.«
Die Möwen waren verstummt, das Meer sang nicht mehr, seine Männer glaubten, dass sein Plan gut war – und das Wichtigste: Er selbst glaubte es auch. Mit List und Gewalt würde er sein Schicksal wenden.
Eine Einzige schien sich dessen nicht so sicher zu sein. Als sie an einer schroffen Steilküste rasteten, an der die Gischt weiß hochspritzte, kam seine Mutter zu ihm geschlichen. Noch greisenhafter erschien sie ihm, nun, da er ihr nicht im trüben Licht des Langhauses begegnete, sondern unter milchigem Himmel, noch boshafter ihr Grinsen, noch durchdringender ihr Blick.
Bislang hatte er sie nicht zurechtgewiesen, weil sie die schwarze Dänin nicht aufgehalten hatte – zu schmählich war es ihm erschienen, überhaupt davon zu sprechen. Doch nun knurrte er: »Wenn du mich noch einmal verrätst, stoße ich dich die Klippen hinab.«
»Was soll’s? Die Männer und Frauen unseres Volks werden nicht dafür gerühmt, dass sie im Bett sterben. Gern falle ich unter deiner Hand, wenn es beweist, dass du kein Feigling bist. Doch ich gebe dir einen Rat: Sieh zu, dass ich auch wirklich tot bin.« Aegla lachte spöttischer und lauter als die Möwen.
Sie hat mich nie gemocht, ging es Agnarr durch den Kopf, und was noch schlimmer ist – sie hat mich nie gefürchtet.
Er war ein großer, schwerer Mann und schien doch kein Gewicht zu haben, wenn es darum ging, ein unauslöschliches Siegel im Herzen zäher, unbeugsamer Frauen zu hinterlassen.
Oft schon hatte er gedacht, dass Berits Geist manchmal zurückkehrte, um ihn heimzusuchen, doch jetzt ging ihm auf, dass sie sich, wenn sie im fernen Hel an ihr Leben dachte, der glücklichen Stunden besinnen würde, nicht jener, da sie sich seinetwegen auf ein Schwert warf. Und auch seine Mutter würde es zu mühsam sein, ihn über den Tod hinaus zu quälen.
»Du legst es doch regelrecht darauf an, dass ich dich töte«, murmelte er, »dich schmerzen dein krummer Buckel und deine morschen Knochen. Deine Augen sind wässrig wie die eines Blinden, deine Hände so gichtig, dass sie kaum mehr etwas halten können, dein Atem so rasselnd, als würdest du jeden Augenblick ersticken. Von mir erhoffst du dir kein Glück, nur das Ende des Leidens. Doch die größte Strafe ist nicht schnelles Sterben, sondern ruhmloses Leben.«
Während er sprach, begann er zu lächeln. Ihr Grinsen hingegen war geschwunden. Etwas Wachsames, Lauerndes stand in ihrem Blick. Es verriet ihm, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Gut so«, sagte sie schließlich leise, »mir scheint, du hast endlich gelernt, dass man seine Feinde nicht bezwingt, indem man ihnen den Kopf abschlägt. Es genügt, ihren Namen zu vergessen – und dafür zu sorgen, dass das auch alle anderen tun.«
Sie klang unerwartet respektvoll, doch sein Lächeln schwand. Er kannte den Namen der schwarzen Dänin nicht … Er hatte sie geschlagen, er hatte sie geschändet, er hätte sie beinahe umgebracht. Aber er wusste immer noch nicht, wie sie hieß.
Nun, fürs Erste würde er ihren Namen auch weiterhin nicht erfahren, aber wenn alles vorbei war, würde er erneut nach ihr suchen, würde ihr diesen Namen rauben, würde sie in den Staub treten. Seine Mutter hingegen würde er keines Blickes mehr würdigen.
F ÉCAMP 996
Trotz ihres schmerzenden Rückens war Wevia erstaunlich flink zu Fuß. Unruhig ging sie in der Kapelle auf und ab. Sie schien zu vergessen, dass dies ein geweihter Ort war und man sich hier lauter Geräusche und heftiger Gefühlsausbrüche zu enthalten hatte.
»Bruder Remi! Bruder Ouen!« Eine Weile wiederholte sie mehrmals ihre Namen, dann fügte sie hinzu: »Die beiden wissen … davon?«
Nahezu anklagend hielt sie die Schriftrolle hoch.
Agnes war erschrocken über Wevias heftige Reaktion gewesen, doch dass die andere, viel Ältere und Lebenserfahrenere ihren Ängsten ebenso ausgeliefert war wie sie den ihren, machte sie mutig.
»Die Mönche wollen, dass das Land wieder ans fränkische Reich fällt und dass Graf Richards Sohn nicht an die Macht kommt«, sagte sie. »Aber ich verstehe nicht, wie diese Schriften …«
»Nein!« Wevia schüttelte heftig den
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